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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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sich ein japanisches Paar von einem Passanten fotografieren. Beweismaterial für die Schweizer Reise.
    Véronique rührte in ihrer Teetasse.
    Sie habe noch ein Anliegen, sagte sie, aber das sei wohl ein bisschen viel verlangt.
    Bitte, sagte Isabelle.
    Ob sie ihr den Ort zeigen könne, wo Martin gestorben sei.
    Ja, bestimmt, das tue sie gerne.
    Gerne? Wirklich? Ob das keine schlechte Erinnerung sei für sie?
    Isabelle überlegte einen Augenblick. Ihr schien, das alles sei noch gar nicht zur Erinnerung geworden, und es kam ihr immer noch unwahrscheinlich vor, wie eine Szene, die man wiederholen könnte, mit einem anderen Ausgang. Er hätte ihr noch geholfen, den Koffer in den Zug zu heben, wäre dann stehen geblieben und hätte sich mit einer kleinen Verbeugung verabschiedet, sie wäre zum Flughafen gefahren, nach Neapel geflogen, hätte dort den Aliscafo bestiegen und säße nun nicht in Zürich mit einer Frau aus Kanada, die sie erst seit gestern kannte, sondern in Stromboli, und würde mit ihrer alten Freundin Barbara einen Tee trinken oder ein Glas sizilianischen Nero d’Avola, unter einer Pergola, von der man die reifen Trauben pflücken könnte.
    Die beiden Frauen gingen zu Fuß zum Hauptbahnhof, und Isabelle führte Véronique über den Lindenhof, einen ihrer liebsten Plätze der Stadt, die Erhebung, auf der einst das römische Kastell stand und von der aus man auf die Limmat, das Rathaus und das Niederdorf hinunterblickte. Die Großmünstertürme hatte man nun fast auf Augenhöhe, und sie sahen weniger rechthaberisch aus.
    Eine Klasse Halbwüchsiger saß mit Zeichenblöcken da, der Lehrer, der seine angegrauten Haare zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte, ging von Gruppe zu Gruppe und gab Kommentare und Hinweise ab, weiter hinten schoben alte Männer mit Mützen und wollenen Kappen große Schachfiguren hin und her. Die zwei Frauen setzten sich in der Nähe des großen Brunnens auf die Mauer, welche den Platz abschloss und steil zu den Häusern am Flussufer abfiel.
    Der Tod, sagte Véronique, sei das Unwahrschein lichste im Leben. Sie könne sich nie daran gewöhnen. Dann blickte sie Isabelle an. Oder wie es ihr damit gehe?
    Im Altersheim, gab Isabelle zur Antwort, sei der Tod ein regelmäßiger Gast, aber wirklich sachlich können wohl nur die Bestatter mit ihm umgehen, jedenfalls berühre es sie jedes Mal, wenn jemand, mit dem man eben noch gesprochen habe, plötzlich leblos daliege. »Wohin ist das Lachen gegangen, die Sprache, wohin die Gedanken und Erinnerungen? Der Reichtum eines ganzen Lebens?«
    Manchmal stelle sie sich das Leben als einen großen, brodelnden Suppentopf vor, aus dem einem ein Löffel voll in einen Teller geschöpft wird, wenn man zur Welt kommt, man esse davon, und am Ende werde das, was übrig bleibt, wieder in den Topf zurückgeschüttet.
    Véronique lächelte. Das Bild gefiel ihr. Das Leben selbst gehe nicht verloren, ja, aber dennoch, Martins Leben sei verloren, und es sei verloren, ohne dass sie es richtig gekannt habe.
    Martin habe sein Leben leben können, sagte Isabelle, da vorn sei in der Mauer ein römischer Grabstein eingelassen, auf dem Zürich zum erstenmal erwähnt werde, vor zweitausend Jahren, und es sei der Grabstein für ein Kind.
    Véronique seufzte.
    Dann zog sie ein Päckchen Zigaretten aus ihrer Handtasche und hielt es Isabelle hin.
    »Danke«, sagte Isabelle, »ich rauche nicht.«
    »Stört es Sie?« fragte Véronique.
    »Gar nicht«, antwortete Isabelle und blickte verwundert auf das Foto eines Beinstumpfes, das unter dem Namen der Zigarette prangte.
    »Die kanadische Warnung«, sagte Véronique, »sie nützt bloß nichts, wie Sie sehen.«
    Mit dem Feuerzeug zündete sie sich die Zigarette an und nahm einen tiefen Zug.
    »Die Schulkinder sammeln die Bilder sogar und tauschen sie aus. Ein Beinstumpf gegen eine Raucherlunge, eine verengte Arterie gegen einen Tumor.«
    Die zwei Frauen lachten.
    Als sie sich von der Mauer erhoben und den Lindenhof verlassen wollten, sah Isabelle, dass einer der Schüler sie abgezeichnet hatte. Mit leichter Hand hatte er den Brunnen skizziert, die Mauer mit ihnen beiden, Véronique mit einer Zigarette in der Hand, im Hintergrund die Kuppeln der ETH und der Universität, und zuletzt die Großmünstertürme.
    Sie blieb einen Moment stehen.
    Der Schüler blickte zu ihr hoch. »Erkennen Sie sich?«
    Isabelle nickte. »Darf ich es haben?«
    Der Schüler riss das Blatt vom Block und reichte es ihr mit einer graziösen Geste. »Macht eine

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