Gleis 4: Roman (German Edition)
Mittwoch.«
Wenn sie wolle, sagte Isabelle, könne sie die restliche Zeit bei ihr wohnen statt im Hotel. Seit ihre Tochter ausgezogen sei, habe sie ein Gästezimmer.
Véronique war gerührt.
Das sei sehr lieb, vraiment très gentil, aber das könne sie nicht annehmen.
Sie überlasse das ganz ihr, sagte Isabelle, und wenn sie es sich anders überlege, könne sie jederzeit anrufen, sie verstehe auch, wenn sie allein sein wolle.
Danke, antwortete Véronique, sie sei einfach sehr erschöpft. Zudem müsse sie nun noch mit ein paar Menschen in Kanada telefonieren.
Aber ob sie sie heute zum Nachtessen bei sich zu Hause einladen dürfe, fragte Isabelle, es sei keine zehn Minuten vom Hotel entfernt, und sie würde sie abholen.
Sie verabredeten sich für sechs Uhr abends, dann standen sie auf, und Isabelle führte Véronique zum andern Abgang in die Unterführung, damit sie nicht nochmals an der Stelle von Martins Tod vorbeikamen.
Durch den Hauptaufgang stiegen sie nachher die Treppe hoch, wichen drei dunkelhäutigen Jugendlichen aus, welche sich auf den obersten Stufen breitmachten, und gingen durch die Öldämpfe eines asiatischen Take-Aways zum Fußgängerstreifen, der zum Hotel hinüberführte.
Eine Viertelstunde später war Isabelle in ihrer Wohnung, machte sich einen Tee und nahm das Käse-Sandwich heraus, das sie sich unterwegs gekauft hatte. Während sie es am Küchentisch zu essen begann, überlegte sie sich, wie es die nächsten Tage weitergehen sollte.
Für sie war klar, dass sie dableiben würde, um Véronique beizustehen bei dem, was sie hier brauchte, also bei der Übergabe der Urne oder bei der Abreise aus der Schweiz. Und vielleicht, dachte sie, kommt in dieser Zeit auch etwas heraus von dem, was ich an dieser Geschichte gern verstünde.
Die Pflegemutter von Martin, der früher Marcel hieß, war die Mutter des unwirschen Mannes auf dem Friedhof gewesen. Vielleicht waren noch Brüder dabei gewesen, oder eine Schwester, der Hinkende und der zweite Mann mit einer Frau am Arm waren alle im ähnlichen Alter. Der Anrufer hatte von »wir« gesprochen, derjenige, der sie angesprochen hatte, und dessen Stimme der am Telefon glich, wollte, dass sie »aus unserm Leben« verschwinde. Auf jeden Fall hatte die Familie versucht, eine Begegnung mit Marcel zu vermeiden. Also musste es irgendein Zerwürfnis geben, eines, das weit zurücklag, wenn es stimmte, dass Martin mindestens in den 20 Jahren, seit Véronique ihn kannte, praktisch keinen Kontakt mit der Schweiz hatte.
Wer darüber etwas sagen könnte, war bestimmt die von Marcel »Tante« genannte Frau. Hoffentlich hatte Véronique ihre Telefonnummer. Sonst müsste man wissen, wie sie hieß; im besten Fall auch Meier, dann wäre sie eine unverheiratete Schwester des Ehemannes von Mathilde Meier, im zweitbesten Fall eine verheiratete Schwester des Ehemannes von Mathilde, welche hinter dem Bindestrich noch Meier hieß, im drittbesten Fall eine unverheiratete Schwester von Mathilde, wel che den ledigen Namen ihrer Schwester trug, Schwegler, wenn sie richtig gelesen hatte, und im viertbesten Fall war es eine verheiratete Schwester Mathilde Meiers, die den ledigen Namen ihrer Schwester hinter dem Bindestrich nach ihrem Nachnamen trug. Dann gab es noch den schlimmsten Fall, nämlich den, dass Martin sie bloß »Tante« nannte, ohne dass sie mit der Familie verwandt war. Isabelle selbst hatte in ihrer Jugendzeit eine Freundin ihrer Mutter »Tante Anna« nennen müssen, was ihr immer zuwider gewesen war, da Anna offensichtlich keine Verwandte war.
Aber eigentlich war der Name Meier schon schlimm genug bei einer solchen Suche. Diese Tante jedoch, wer immer sie war, könnte nicht nur eine Spur zu den widerborstigen Meiers legen, sondern auch zurück zu Marcels Jugendzeit und dem, was ihm damals widerfahren war. Denn dass sich der Schweizer Marcel grundlos in den Kanadier Martin verwandelt hatte, konnte sich Isabelle nicht vorstellen, dass hingegen die Meiers etwas damit zu tun hatten, sehr wohl.
Bloß, wie sollte sie herausfinden, was es war? Und warum überhaupt?
Isabelle begann sich eine Einkaufsliste zu machen für das Nachtessen mit Véronique:
Bio-Lachs
Kartoffeln
Lattich
Tomaten
schrieb sie als Erstes darauf und überlegte sich dann, ob Véronique wohl gern Fisch hatte.
9
Sarah saß in der Straßenbahn, hatte ihre Tasche auf den Nebensitz gestellt und war in Gedanken versunken. Sie kam aus einer Ausstellung mit afrikanischer Kunst im Museum Rietberg. Eine
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