Gleis 4: Roman (German Edition)
kamen sie in die Schweiz und wurden Schweizer. Ich habe sie sehr gern.« Dann wusste sie nicht mehr weiter.
Die Lehrerin, die um alles Multikulturelle sehr bemüht war, fand das interessant, aber als Sarah vor der Klasse Auskunft geben sollte, wie das gegangen sei und wo die Großeltern denn jetzt in der Schweiz wohnten, erschrak sie und sagte, sie seien bald darauf gestorben. Dann, sagte die Lehrerin, müsse sie »Ich hatte sie sehr gern« schreiben statt »Ich habe sie sehr gern«. Seither hatte Sarah, wenn immer es ging, vermieden, ihre Herkunft anzusprechen.
Eine weibliche Figur war da noch gewesen in der Ausstellung, vor der sie lange stehen geblieben war. Sehr schmal war sie, aus rötlichem Holz, mit spitzen, nach unten weisenden Brüsten, einem großen Bauchnabelwulst und einem Lendenschurz. Um den Hals trug sie eine Kette, die Haare waren durch einen eng anliegenden Kopfschmuck bedeckt, ihr Blick ging in die Weite, und sie hatte beide Hände hoch erhoben. Zur Abwehr oder zum Triumph? Die eine Hand war zur flachen Faust geballt, die andere war offen. Ein Dogon-Meister habe sie im 14. Jahrhundert gemacht, war auf der kleinen Begleittafel zu lesen.
Sarah war fasziniert von dieser dünnen Frau, die schon seit 600 Jahren ihre Hände in die Höhe hielt. Oder war es eine Warnung? Wem galt sie? Die Dogon lebten in Mali, das war dort, wo ihr Vater herkam. Ob er selbst zum Volk der Dogon gehörte? Dann wäre sie, Sarah, auch eine Dogon-Frau, mindestens zur Hälfte. Die andere Hälfte stammte von Winterthur ab, vom Volk der Winterthurer sozusagen.
Die Figur war in einer Glasvitrine ausgestellt, und als Sarah plötzlich ihr eigenes Spiegelbild sah, hinter dem die Afrikanerin ihre Hände erhob, war sie eigentümlich berührt und konnte sich lange nicht von ihr loslösen. Der Gedanke, sie sei vielleicht zwei Wesen, war ihr noch nie in dieser Deutlichkeit erschienen und hatte sie auch noch nie so erschreckt. Etwas Unklares war da, das sie verwirrte und dem sie nun nachhing.
Sie fuhr zusammen, als eine Frau aus dem Volk der Zürcher sie in ihrem schneidenden Dialekt anherrschte: »Händ Sie für Ihri Täschen au es Bileet zahlt?« Rasch ergriff sie ihre Tasche, stand auf, ohne ihre Gegnerin anzusehen, und ging zur nächsten Tür. Als diese sich öffnete, stieg sie aus und merkte, dass sie zu weit gefahren war.
Sie stand am Schaffhauserplatz, blickte einen Moment etwas ratlos auf die Tramschienen, die sich hier verzweigten, ging dann zur Haltestelle in der Gegenrichtung hinüber, doch als nun als nächstes ein Elfer dahergefahren kam, stieg sie ein und beschloss, mit ihm ein paar Stationen weiter zu fahren und ihre Mutter zu besuchen.
Am Bahnhof Oerlikon stieg sie aus, kaufte in der Confiserie ein paar Pralinés und schlenderte dann an einem Einkaufszentrum vorbei, vor dem ein Schwarzer ein Straßenmagazin feilbot, blieb einen Moment vor dem Schaufenster eines Modegeschäfts stehen, in welchem alle ausgestellten Kleider wie Gehenkte an Drahtschlingen hingen, trank an einem Brunnen, der während ihrer Schulzeit hier aufgestellt worden war, ein paar Schlucke Wasser, das aus einem Fisch floss, den ein sitzender Bronzeknabe in der Hand hielt, um dann etwas hangaufwärts zum großen Wohnblock zu gehen, in dem ihre Mutter wohnte und in dem sie bis vor kurzem auch gewohnt hatte.
Im Eingangsraum des Wohnblocks stand ein älterer Mann vor den Briefkästen, drehte sich zu Sarah und blickte ihr nach, als sie zum Lift ging. Sarah war es gewohnt, dass ihr Männer nachschauten, und gewöhnlich reagierte sie nicht darauf. Aber etwas an dem hier gefiel ihr nicht; als sie im Lift stand, drehte sie sich um und sah, dass er ihr immer noch nachblickte. Die Lifttür schloss sich, und sie drückte die Nummer 5.
Aus der Wohnungstür »Rast« drang der Geruch von gebratenem Fisch. Sarah hatte zwar immer noch einen Hausschlüssel, wollte jedoch ihre Mutter nicht erschrecken und klingelte. Ihr schien, ihre Mutter erschrecke trotzdem.
»Sarah – was für eine Überraschung!«
»Hallo Ma, ich wollte nur mal kurz vorbeikommen und schauen, wie’s dir geht – oh, du hast Besuch.«
Sarah schloss die Wohnungstür und sah, dass im Wohnzimmer eine blonde Frau vor einem Aperogetränk saß, eine Frau, die sie nicht kannte. Der Tisch war fast festlich gedeckt, und einen Moment lang überlegte sie sich, ob ihre Mutter vielleicht eine lesbische Seite hatte, die ihr bisher entgangen war. Doch dann stellte Isabelle die beiden Frauen einander vor, und
Weitere Kostenlose Bücher