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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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Kollegin, die Ethnologie studierte, hatte ihr davon geschwärmt: »Eine Wucht«, hatte sie gesagt, »da musst du hin! Gerade du.« Wieso gerade sie, hatte Sarah gefragt, und die Kollegin hatte geantwortet, das seien doch auch ihre Wurzeln.
    Waren sie das wirklich? Sarah war nie in Afrika gewesen, ihre Mutter hatte ihr zwar gesagt, wer ihr Vater war, aber sie hatte nie den Versuch gemacht, Kontakt mit ihm aufzunehmen. Auch ihre Mutter hatte, soviel sie wusste, keine Verbindung mehr mit ihm, hatte auch nie irgendwelche Ansprüche an ihn gestellt und war für ihre Erziehung und Ausbildung immer allein aufgekommen. Aus Afrika bekam man kein Geld, nach Afrika schickte man welches.
    Sarah war als Schweizer Kind groß geworden, vom Hort über den Kindergarten, die Primarschule bis zur Mittelschule mit Matura-Abschluss, sie interessierte sich nicht stärker für Afrika als ihre weißen Mitschüler und Mitschülerinnen, ja oft sogar weniger, jedenfalls machte sie keine der Ethnomoden mit, die ebenso Schwarzafrika wie Lateinamerika imitieren konnten und sich in besonders bunten Kleidern ausdrückten, die plötzlich »in« waren, oder in kleinen Kultfigürchen, die auf einmal an jeder zweiten Halskette ihrer Freundinnen baumelten.
    Sie hielt es sonst nicht lange in Ausstellungen aus, war aber heute, nachdem sie in das Souterrain des Museums hinuntergestiegen war, längere Zeit geblieben, war zwischen den Masken, Statuetten, Grabfiguren, Herrscherinsignien und Zeremonialstäben hin und her gegangen und hatte sich auf eine eigenartige Weise davon angezogen gefühlt. Als neben ihr ein ergrauter Mann in einem gut geschnittenen Anzug zu seiner Frau, die mit Ekel und Faszination auf eine Königsstatue mit einem riesigen Penis starrte, sagte: »Das ist halt schon eine ganz andere Kultur«, stieg Ärger in ihr hoch, Ärger über diese spießbürgerliche Ablehnung, Ärger über diese Sicherheit, dass dies alles nichts mit uns zu tun habe. Zugleich war in ihr ein sonderbares Gefühl wach geworden, ihr kam es vor, als wären hier Nachrichten für sie gelagert, die nur darauf gewartet hatten, dass sie sie abholte.
    Vor einer Frauenmaske mit geschlossenen Augen und halb geöffneten Lippen, hinter denen die Zähne zu sehen waren, verweilte sie länger. Ein Diadem und goldene Ohrringe wiesen sie als jemanden der gehobenen Klasse aus, aber der Kopfschmuck war eine wilde Mischung aus Geflochtenem, Gesticktem und Gezöpfeltem, mit wirren Netzen, die links und rechts hinunterhingen, und Sarah ertappte sich beim Gedanken, dass ihr diese Kopfbedeckung auch gut stehen würde. Ein strenges Antlitz mit rätselhaften Verzierungen. Stellten sie Tätowierungen dar, Symbole? Waren es Narben? Zeichen für zugefügtes Leid? Und die Schlange auf der Stirne? Sarah hätte Lust gehabt, die Maske anzuziehen, um zu sehen, wie es sich dahinter anfühlte.
    Und zu einer Ahnenfigur war sie noch ein zweites Mal gegangen, aus dunkel glänzendem Holz war sie geschnitzt, der Kopf war im Verhältnis zum Körper zu groß, die Nase zu lang, die Augen gleichgültige Schlitze, nicht zum Sehen dieser Welt gemacht, die Arme fast affenartig lang und die Beine mit gebogenen Knien zu kurz, der Bauchnabel stand wie ein kleiner Vulkan vor, dessen Kraterrand immer noch an die Wunde der Geburt gemahnte, und unter einer Gürtelschnur hing der Penis hinunter, der Samenträger und Produzent künftiger Näbel. Die Figur erinnerte Sarah auf schmerzliche Weise daran, dass sie eine ganze Reihe von Vorfahren hatte, von denen sie nichts wusste, und der hier vor ihr stand, aus dunkel glänzendem Holz geschnitzt, und ihren Blick in sich hineinsaugte, war der Anführer einer Ahnenkolonne, die sich irgendwo in der zentralafrikanischen Savanne verlor.
    Einmal, als Sarah in der vierten Klasse war, mussten sie einen Aufsatz schreiben mit dem Titel »Meine Großeltern«. Die Lehrerin hatte vorgeschlagen, sie sollten damit beginnen, wo sie wohnten, also »Meine Großeltern wohnen in Hinwil«, oder »Meine Großeltern wohnen in Brig«, oder auch »Meine Großeltern wohnen in Spanien«. Mit dem letzten Vorschlag wollte sie die Kinder von Migranten ermutigen, denn das komme ja häufig vor, sagte sie, dass Großeltern im Ausland wohnten, und das sei für die Enkelkinder bestimmt sehr spannend. Sarah hätte gut von ihren Schweizer Großeltern in Winterthur erzählen können, die sie sehr gerne mochte, doch stattdessen schrieb sie: »Meine Großeltern wohnten in Afrika im Urwald. Als dies zu schwer wurde,

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