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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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vielleicht war er ein Verdingkind, oder es ging um Vormundschaft oder Adoption. Zu jeder dieser Möglichkeiten gibt es Fragen, die man als Betroffener später noch stellen möchte.«
    Sarah war etwas betreten. »Vielleicht können ja wir diese Fragen stellen.«
    »Vielleicht«, sagte Frau Stehli, und fügte dann mit Blick auf Véronique hinzu: »Aber die Antworten können schmerzhaft sein.«
    Auf einmal war sie Sarah sympathisch.

13
    »Er ist also tot?«, sagte der Mann mit den Kugelaugen und dem braunen Filzhut zu Isabelle, halb als Frage, halb als Aussage, und schaute ihr scharf in die Augen.
    Sie saßen an einem Tisch der »Brasserie Fédéral« in der großen Halle des Zürcher Hauptbahnhofs. Die Halle wurde von einem blauweiß karierten Bierzelt dominiert, das zwei Wochen lang das Münchner Oktoberfest unter dem Titel »Züri Wiesn« nachstellte. Aus dem Zelt erklangen Musikfetzen in wechselnder Lautstärke, offenbar machte eine Volksmusik- oder Schlagerformation ihren Soundcheck. Ein Stand verkaufte Lebkuchenherzen und andere Süßigkeiten, an einem andern hingen T-Shirts mit der Aufschrift » I MOG DI «, weiter hinten gab es eine Schießbude, eine junge Frau hielt einladend ein Gewehr in der Hand, ohne dass jemand einen Schuss riskieren wollte.
    Der Mann, der sich Meier nannte, hatte Isabelle, kurz nachdem Sarah und Véronique das Haus verlassen hatten, auf ihrer normalen Nummer angerufen und ihr ein Treffen vorgeschlagen.
    Und da saßen sie nun auf den Holzbänken der Brasserie, beide mit einem Kaffee vor sich, und Isabelle antwortete auf seine Frage: »So ist es. Leider.«
    »Tot zusammengebrochen auf dem Bahnhof Oerlikon?«
    »Wie ich Ihnen sagte, ja.«
    »Am letzten Montag?«
    »Am Montag, ja.«
    »Und Sie waren seine Freundin?«
    Isabelle zögerte einen Moment und sagte dann:
    »Ich bin es erst nach seinem Tod geworden.«
    Nun war Meier verblüfft.
    »Was soll das heißen?«
    Das heiße, sagte Isabelle, dass sie ihn erst zwei Minuten vor seinem Tod kennengelernt habe und nachher das Gefühl gehabt habe, dass sie ihm helfen müsse.
    »Einem Toten helfen?«
    »Man kann einem Toten helfen, seine Würde zu bewahren. Zum Beispiel gegenüber Leuten wie Ihnen.«
    »Erzählen Sie keinen Quatsch.«
    »Wieso wollten Sie denn nicht, dass er zur Beerdigung seiner Pflegemutter kam?«
    »Was wissen Sie von seiner Pflegemutter?«
    »Zu wenig. Könnten Sie mir nicht etwas erzählen von ihr?«
    »Ich erzähle Ihnen, was ich will.«
    »Das merke ich.«
    Isabelle drehte den Kaffeerahmdeckel in ihren Fingern. Auf ihm war das Wirtshausschild der Brasserie Fédéral abgebildet, ein Oval mit einem Schweizerwappen unter dem Wort » FEDERAL «. Dieses war groß geschrieben, und die Akzente fehlten. Aus dem Zelt drang das Lied »So ein Tag«, von einer Frauenstimme gesungen, die bei »wunderschön« plötzlich abbrach und dann erneut anhob, diesmal von irgendeinem vibrierenden Instrument begleitet.
    Meier hatte einen der blauen Bierdeckel mit der Aufschrift »Unser Oktoberfest!« in der Hand, die auflagen, und klopfte damit von Zeit zu Zeit auf den Tisch.
    »Woher wissen Sie, dass Mathilde Meier seine Pflegemutter war?«
    »Von seiner Frau.«
    Meier kniff seine Augen zusammen. Isabelle hatte bisher noch nichts von ihr erzählt.
    »Er hatte eine Frau?«
    »In Kanada, ja. Sie wissen doch, dass er in Kanada lebte?«
    Meier nickte.
    »Seine Frau ist am Tag nach seinem Tod angereist.«
    »Und was hat sie Ihnen sonst noch erzählt?«
    »Sie weiß kaum etwas von seiner Jugendzeit.«
    Meier hob seine Augenbrauen und ließ den Bierdeckel in der Schwebe.
    »Da sind Sie erleichtert?« fragte Isabelle nach einer Weile.
    Meier blickte sie nur an und klopfte dann mit dem Deckel wieder auf den Tisch.
    »Von seiner Jugendzeit gibt es nicht viel zu erzählen.«
    »Sie waren also fast sein Bruder?«
    »Bruder? Nein. Er wohnte bei uns, ja.«
    »Wie lange?«
    »Bis er weg musste.«
    »Wieso musste er weg?«
    »Weil er Mist gebaut hatte.«
    »Und wohin musste er?«
    »In die Anstalt.«
    »In welche?«
    »Weiß ich nicht. Ich habe ihn nicht mehr gesehen seither. Wieso interessiert Sie das alles?«
    Isabelle blickte in die Höhe und sah auf den Hintern des farbenfrohen Riesenengels, der am Deckengewölbe und der Seitenmauer mit Drahtseilen befestigt war. Dann schaute sie ihn lächelnd an und sagte:
    »Weil ich mit ihm befreundet war.«
    Meier stieß etwas wie ein Lachen aus und schüttelte den Kopf.
    »Befreundet – mit einem Toten …«
    »Ja. Und

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