Gleis 4: Roman (German Edition)
herauszufinden?
Isabelle begann unter dem Fragezeichen Wellenlinien zu ziehen, vom linken bis zum rechten Seitenrand.
Sie würde Véronique nochmals fragen. Martin musste doch irgendwo eine Adresse oder eine Telefonnummer notiert haben. Vielleicht hatte er allerdings erwartet, die Tante bei der Beerdigung zu sehen und hatte sie gar nicht angerufen. Das schien ihr am wahrscheinlichsten, schließlich war er eben erst mit einem Interkontinentalflug gelandet, und auf seinem Handy war kein anderer abgehender Anruf gespeichert als derjenige vom Montagmorgen nach Uster. Oder hatte er sie von woanders angerufen?
Isabelle liebte Klarheit, und so viele Unklarheiten machten sie missmutig. Sie ließ auf der rechten Seite eine Vulkaninsel aus den Wellen aufsteigen, und ihr schmierender Krankenkassenkugelschreiber schleuderte Aschewolken und Lavastriemen aus dem Krater heraus.
Dann schrieb sie in die Fragezeichenrubrik HANDY , wieder mit Großbuchstaben.
Martins kanadisches Handy war bei seinen Effekten im Hotel gewesen, also hatte er sich das Sony Ericsson in der Schweiz besorgt, entweder gleich am Flughafen – man konnte ja auch welche mieten für die Dauer eines Aufenthalts – oder im Hotel. Was sie aber nicht verstand, war, woher Konrad Meier die Nummer hatte. Martin war am Sonntagmittag in Zürich angekommen, und am Montagvormittag rief ihn Meier auf dieser Nummer an. Hatte ihn Martin vom Hotel aus angerufen und ihm die Handy-Nummer gegeben? Aber sie erinnerte sich gut an den Anruf, den sie an Martins Stelle entgegengenommen hatte. Meier sprach wie einer, der endlich jemanden erreicht, er wollte eine Botschaft hinterlassen und nicht eine frühere Botschaft bekräftigen.
Isabelle seufzte und zeichnete winzige Häuschen am Ufer der Vulkaninsel. Stromboli … Dort könnte sie jetzt mit Barbara in der Sonne liegen, ab und zu ein paar Züge im Meer schwimmen, und abends würden sie sich zusammen Spaghetti kochen oder irgendwo eine Pizza essen gehen, hätte sie bloß »Nein, danke« gesagt.
Sie lebte in einem Land, in dem normalerweise jedes Hilfsangebot zuerst einmal abgelehnt wurde. »Nein, danke, es geht gut«, sagte man keuchend, ächzend, mit verzerrtem Lächeln, damit man sich ja nicht etwas abnehmen lassen muss. Bösiger, der im Rollstuhl saß, wurde wütend, wenn man ihn auf dem Weg zum Speisesaal schieben wollte, obwohl er nur noch mit einer Hand ein Rad drehen konnte und durch Anschieben mit dem Fuß mühsam etwas nachhalf. Irgendeinmal hatte Isabelle beschlossen, Hilfe anzunehmen, wenn sie angeboten wurde, damit sie nicht so wurde wie Bösiger. Wenn der einmal stirbt, dachte sie, und man ihn einsargen kommt, wird er sich nochmals aufrichten und sagen: »Nein danke, es geht schon.«
Isabelle zeichnete eine Sonne, die zwischen dem Fragezeichenwurm und Stromboli noch Platz hatte.
Dann schrieb sie unter HANDY das Wort »Bitte«.
Wenn sie der sterbende Martin hätte bitten wollen, seine Frau zu benachrichtigen, hätte sie es verstanden. Das wäre die einfachste Erklärung und ihr auch die liebste.
Wenn es aber mehr war?
Sein Blick war so flehentlich gewesen, dass sie vom Gedanken nicht loskam, er habe sie, Isabelle Rast, um etwas ganz Bestimmtes bitten wollen. Doch dazu hätte er sie kennen müssen, und das war ja nicht der Fall, mehr als das, es war unmöglich.
Isabelle schaute durch das Fenster auf die obersten Stockwerke der Hochhäuser. In der Fensterfront des Swissôtels spiegelte sich die Sonne so stark, dass es sie blendete. Dann blickte sie wieder auf ihr Blatt. Das waren ihre Fragen. Sie zählte nach. Neun insgesamt, und nach unten wurden sie immer schwieriger.
Sie zog zwei parallele Striche durch das Fragezeichen hinab, ließ sie wie einen Masten in ein Schiff münden, das sie auf den Wellen zeichnete, und nun sah das Fragezeichen wie ein Segelboot aus und der gestrichelte Punkt wie ein Rettungsring.
Da war ein Kapitän ertrunken, dachte sie, und hat noch nach einem Rettungsring gesucht, und es war keiner da außer mir.
15
»Wyssbrod?«
»Ja, Ma, so hieß er früher – merkst du etwas?«
»Was soll ich merken?«
Sarah lachte. »Was isch es Wyssbrot uf französisch?«
»Un pain blanc – ach so, Blancpain!«
Isabelle schlug sich an die Stirn.
Sarah und Véronique saßen mit ihr in der Küche und erzählten von ihrer Spurensuche in Uster.
Isabelle stand auf, ging ins Wohnzimmer und kam zurück, das Blatt mit den Fragen in der Hand.
»Dann kann ich das mit dem Namen schon mal abhaken«,
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