Gleis 4: Roman (German Edition)
mit den Gallensteinen musste man ihr auch einen Teil ihrer Energievorräte entfernt haben. Sie blieb liegen und dachte an Herrn Michel, der einmal Rektor einer Schule gewesen war und sie jedesmal, wenn er aufstehen sollte, aus halb geschlossenen Augen traurig anschaute und fragte: »Wozu?«
Wozu, das wusste sie allerdings. Sie hatte sich vorgenommen, eine Liste zu machen von allem, was sie über die Geschichte, in die sie hineingeraten war, nicht wusste. Bis zu Véroniques Abreise nächsten Mittwoch, das war ihr nach dem Gespräch heute Vormittag klar geworden, würde sie sich ohnehin mit nichts anderem beschäftigen können.
Nachdem sie vom Treffen im Hauptbahnhof nach Hause gekommen war, hatte sie sich eine jener Pulversuppen zubereitet, die man bloß mit heißem Wasser übergießen musste und nach einer Minute Umrühren schon verspeisen konnte, ohne genau zu wissen, was man zu sich nahm. Dazu hatte sie ein Stück Brot gegessen und danach ein Früchtejogurt, dann hatte sie sich einen Moment aufs Sofa gelegt und war sofort eingeschlafen.
Fröstelnd rappelte sie sich auf und sagte halblaut den Satz zu sich, den sie ihren Heimbewohnerinnen immer sagte: »Sie sollten sich zudecken, Frau Rast, wenn Sie sich hinlegen.«
Sie ging in die Küche, warf sich eine Jacke über, machte sich einen chinesischen Räuchertee, setzte sich ins Wohnzimmer, nahm den Telefonnotizblock und begann einen Zettel zu schreiben.
Zuoberst zeichnete sie mit ihrem Kugelschreiber ein großes Fragezeichen. Den Punkt darunter machte sie als Kugel. Sie überlegte einen Moment, womit sie beginnen sollte, und zog zum Fragezeichen eine zweite Linie derselben Form, die sie zuletzt mit zwei Strichen an den Enden mit der ersten Linie verband.
»Jugend« schrieb sie darunter.
Darüber wusste sie zwar seit heute Morgen etwas.
Sie zog in der Mitte einen senkrechten Strich über das Blatt, damit sie rechts Platz hatte für das, was sie wusste. »Pflegefamilie« und »Anstalt« schrieb sie dorthin. Aber wieso er in die Pflegefamilie gekommen war, wusste sie ebenso wenig wie den Grund, warum er in die Anstalt gekommen war, und in welche, also schrieb sie auf der linken Seite unter »Jugend« nochmals »Pflegefamilie« und »Anstalt«.
Sie zeichnete um die Kugel des Fragezeichenpunktes eine zweite Kugel.
»Name« schrieb sie, und »Kanada«. Wann war er nach Kanada ausgewandert? Hatte er auch einen andern Nachnamen gehabt? Oder wurde er adoptiert? Wieso hatte sie das den düsteren Meier nicht gefragt? Fraglich, ob er ihr dazu etwas gesagt hätte, es war schwierig genug gewesen, das Wenige aus ihm herauszuholen. Aber diese Liste hätte sie besser vor dem Gespräch erstellt.
Sie begann den Leerraum im Fragezeichen mit feinen Strichen zu füllen.
Unter »Pflegefamilie« fügte sie noch »Mist« ein. Wenn sie wüsste, was der Mist war, den der junge Marcel gebaut hatte, wüsste sie wohl auch, weshalb ihn die Meiers auf keinen Fall bei der Beerdigung haben wollten.
Sie fuhr fort, ihre Striche in das Fragezeichen zu kritzeln. Der Kugelschreiber schmierte ein bisschen, ein Werbegeschenk, der Name einer Krankenkasse stand darauf.
Aber eigentlich war das alles nicht so wichtig.
Was sie unbedingt benötigte, wäre eine Spur zur Tante.
Sie schrieb TANTE und fuhr dann weiter mit ihren Strichlein, bis das Fragezeichen wie ein Regenwurm aussah. Sie war ziemlich sicher, dass Meier wusste, wer diese Tante war, und sie war ziemlich sicher, dass sie zur Meier-Familie gehörte und weder zu Martins Herkunftsfamilie noch zur Anstalt. Wenn Meier ihren Namen nicht preisgeben wollte, wusste wahrscheinlich auch sie über das Geheimnis Bescheid, das die Familie für sich behalten wollte und das auf irgendeine Weise mit dem Mist zusammenhing, den Marcel gebaut hatte.
Sie strichelte nun auch den Ring des Fragezeichenpunktes, bis er einem Autopneu glich.
In den meisten Familien gab es dunkle Flecken. Mehr als einmal hatte sie erlebt, wie alte Familienrechnungen beglichen wurden und wie Angehörige empört die Tür zuknallten und durch den Korridor davonschnaubten, weil sie erfahren hatten, dass das Haus schon längst einem Sohn überschrieben war, von dem niemand etwas gewusst hatte, oder sie schlichen sich still und verstört weg, weil sie vernommen hatten, dass ihr sterbender Vater gar nicht ihr leiblicher Vater war.
Der misstrauische Meier, das stand für Isabelle fest, würde mit dem Namen der Tante nicht herausrücken. Was gab es sonst für Wege, diesen
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