Gleis 4: Roman (German Edition)
mit seiner Witwe. Auch sie wüsste gern mehr über seine Vergangenheit.«
»Wenn sie bis jetzt nichts gewusst hat, braucht sie auch weiterhin nichts zu wissen. Und da soll sie froh sein.«
»Wurde er schlecht behandelt?«
»Nicht schlechter als wir.«
»Sie hatten Geschwister?«
»Hab ich immer noch. Einen Bruder. Wieso fragen Sie mich das? Ich frage Sie ja auch nicht nach Ihren Geschwistern.«
»Das dürften Sie aber.«
»Was interessiert mich das?«
Von einem Stand gegenüber erklang Kindergeschrei. Zwei dunkelhäutige Buben mit Kickboards bestürmten ihre Mutter, eine mit Kopftuch und bodenlangem Gewand verhüllte Frau, sie solle ihnen einen der Lebkuchen kaufen, die an einem bunten Band von einer Stange herunterbaumelten. Die Frau verneinte entschieden und ging weiter, die Buben riefen ihr wütend nach, bis sie schließlich verdrossen hinter ihr herfuhren.
»Und wer ist seine Tante?« fragte Isabelle.
»Wer?«
»Die Tante, von der er wusste, dass seine Pflegemutter gestorben war. War sie Ihre Tante?«
Meier trank einen Schluck Kaffee und wischte sich mit dem Handrücken die Lippen ab.
»Kenn ich nicht. Vielleicht jemand aus der Anstalt.«
Isabelle musterte ihn wie einen dementen Patienten. Es war klar, dass er log.
»Was war denn der Mist, für den er in die Anstalt kam?«
»Schlimm war das. Es hat unsere Familie kaputt gemacht.«
»Seiner Frau sagte er, er habe nie etwas Unrechtes getan.«
»So. Hat er gesagt. Ja, ja. Das kann jeder sagen, in Kanada.«
»Und wenn es so wäre?«
»Es war nicht so!«
Er schlug mit der linken Faust auf den Tisch, dass die Kaffeelöffel klirrten.
»Wie war es denn?«
Meier drückte seinen Bierdeckel auf den Tisch, bis er knickte.
»Hören Sie, Frau … Isabelle Rast. Ich wollte von Ihnen nur wissen, was mit Marcel ist. Sie haben es mir gesagt. Ob ich es Ihnen glaube, ist eine andere Sache. Aber Ihnen bin ich keine Auskünfte schuldig. Über nichts. – Zahlen!«
»Ist schon gut, Herr … Albert Meier.«
»Konrad!« zischte Meier und merkte im selben Moment, dass sie ihn erwischt hatte.
»Ist schon gut, Herr Meier. Ich lade Sie ein.«
Meier sagte nichts und blieb sitzen, bis der Kellner kam. »Zusammen?« fragte er.
Isabelles Ja und Meiers Nein kamen fast gleichzeitig. Der Kellner lachte. Dann nahm er Isabelles acht Franken und bedankte sich. Meier schob die Sitzbank mit einem Ruck zurück und erhob sich.
Isabelle stand ebenfalls auf.
»Herr Meier, das Handy von Martin habe ich seiner Witwe zurückgegeben. Bitte rufen Sie dort nicht mehr an, sie versteht sowieso kein Deutsch.«
»Wieso Martin?«
»In Kanada nannte er sich Martin. Martin Blancpain.«
Meier stützte beide Hände auf den Tisch und beugte sich unangenehm nahe zu Isabelle vor. »Martin Blancpain? Dann war er’s doch nicht, und Marcel lebt noch.«
Isabelle wich nicht zurück.
»Marcel lebt nicht mehr. Sie brauchen also keine Angst zu haben, dass er mit Ihnen über seine Jugendzeit sprechen will.«
»Ich habe überhaupt keine Angst. Weder vor Marcel noch vor Ihnen.«
Es war so offenkundig, dass er Angst hatte, dass Isabelle fast Mitleid empfand. Doch die Erinnerung, wie ihr einmal ein 95jähriger überraschend einen Faustschlag versetzt hatte, machte sie vorsichtig, und sie trat einen Schritt zur Seite.
»Sie haben ja jetzt meine Telefonnummer. Wenn Ihnen in den Sinn kommt, wer seine Tante sein könnte, dürfen Sie mich jederzeit anrufen. Auf Wiedersehen, Herr Meier.«
»Ade.«
Sie verließ den Tisch und ging zu den Tramhaltestellen hinaus, am Bierzelt vorbei, aus dem jetzt »Trink, trink, Brüderlein trink!« erklang.
Meier blieb einen Moment stehen, machte zwei Schritte in Richtung der Bahngeleise, kehrte dann wieder um und nahm die vier Franken, die er für seinen Kaffee auf den Tisch gelegt hatte, an sich. Dann ging er damit zum Stand mit den Süßigkeiten und kaufte sich ein kleines Säcklein Magenbrot.
14
Isabelle erwachte auf ihrem Sofa und fühlte sich so schwer, dass sie auf einmal die alte Frau Maurer im zweithintersten Zimmer ihrer Abteilung verstand, die jeden Morgen sagte:
»Ich kann nicht aufstehen.«
Wenn Isabelle dann fragte: »Fehlt Ihnen etwas?«, antwortete sie: »Die Kraft.«
Wie froh wäre sie jetzt gewesen, es hätte ihr eine Pflegerin den Arm um ihre Schultern geschoben und ihr aufgeholfen. Sarahs Bemerkung mit der Rekonvaleszenz kam ihr in den Sinn, und es wurde ihr bewusst, dass sie Recht hatte. Dass man mitten am Tag nur so müde sein konnte. Zusammen
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