Gleis 4: Roman (German Edition)
er, der sichtlich Gefallen an Sarah fand.
»Erinnern Sie sich an einen Telefonanruf am Montagmorgen?«
Na, sagte der junge Mann amüsiert, an welchen der drei Dutzend er sich denn erinnern solle und warum.
Sarah legte ihm die Kopie des Eintrags von Marcel Wyssbrod hin, erklärte ihm, dass er für verschollen erklärt wurde, jedoch in Wirklichkeit nach Kanada ausgewandert sei, dass Véronique seine Frau sei, aber nichts von seiner Vergangenheit wisse, und dass sie nun auf der Suche nach seiner Herkunft seien.
Der Mann wollte nicht recht begreifen. Warum sie ihn denn nicht selbst frage?
Er sei letzten Montag Mittag in Zürich gestorben, habe aber laut seinem Handy am Morgen noch auf der Stadtverwaltung angerufen, und sie hätten einfach gern gewusst, mit wem er da gesprochen habe und warum.
Jetzt wurde der Mann ernster. »Hören Sie«, sagte er, »ich darf Ihnen da –«
»Bitte kein Persönlichkeitsschutz«, fiel ihm Sarah ins Wort, »der Mann ist tot, und die wichtige Persönlichkeit ist jetzt seine Frau, eh, seine Witwe, die hier steht, und die aus Kanada angereist ist und auf seine Asche wartet und – verstehen Sie mich?«
Sie blickte ihn aus ihren dunklen Augen an, bis er seinen Blick senkte. Dann hob er seinen Kopf wieder:
»Und wer sind Sie, wenn ich fragen darf?«
»Ihre Nichte«, sagte Sarah, ohne zu überlegen.
Der Mann spielte mit seinem Kugelschreiber und schaute zum Telefon.
»Also«, sagte er dann, »weil Sie’s sind – einer rief an und fragte nach der Armenbehörde, und dieser Ausdruck fiel mir auf, weil er von früher ist, ich wollte ihn mit dem Sozialamt verbinden, doch die hatten an diesem Vormittag eine große Sitzung, und bis 11 Uhr war niemand telefonisch zu erreichen.«
»Danke«, sagte Sarah, »danke, ich glaube, das war er. Hat er sich mit Blancpain angemeldet?«
»Könnte sein, ja, ich hab ihn nicht so gut verstanden. Es kam auch kein zweiter Anruf mehr.«
»Um 11 Uhr war er schon tot«, sagte Sarah.
»Oh – das tut mir leid«, sagte der Mann mit Blick auf Véronique, »I am very sorry.«
»Thank you«, sagte Véronique.
Der Mann nickte und sagte zu Sarah: »Das Sozialamt ist im ersten Stock.«
Die hagere Frau, die ihnen dort wenig später gegenübersaß und sich als Frau Stehli, Sozialarbeiterin, vorstellte, hatte einen etwas bekümmerten Gesichtsausdruck, und Sarah fragte sich, ob das ihr Berufsblick war, den sie aufsetzte, wenn sie am Morgen ihr Büro betrat.
Nachdem ihr Sarah erzählt hatte, weshalb sie hier waren, und ihr auch den Geburtsschein von Marcel Wyssbrod und den Eintrag im Bürgerregister vorgelegt hatte, mit der Frage, ob wohl über jemanden dieses Namens in den Akten zwischen 1940 und 1962 etwas bekannt sei, wurde ihr Blick noch bekümmerter. Leider seien diese Jahrgänge noch nicht digitalisiert, sodass sie im Archiv in jedem einzelnen Jahr den Buchstaben W durchsehen müsste, und dazu komme sie heute nicht mehr. Ob es denn sehr wichtig sei?
Sarah wies sie darauf hin, dass die Witwe von Herrn Wyssbrod, der sich eben später in Kanada Blancpain genannt habe, nächsten Mittwoch wieder nach Montreal zurückfliege, und dass sie bis dahin Klarheit über Marcel Wyssbrods Jugendzeit erlangen möchte, und wenn sie wolle, komme sie gern mit ihr ins Archiv, damit sie bei der Suche schneller vorwärtskämen.
Das komme leider gar nicht in Frage, sagte Frau Stehli, aus Gründen des Datenschutzes.
Sarah nickte, bevor das Wort ausgesprochen war, und fragte dann etwas gereizt, ob es ihr denn möglich wäre, die Nachforschungen bis am Montagnachmittag zu machen, dann kämen sie ohnehin nochmals nach Uster wegen der Gerichtsakte zur Verschollenheitserklärung.
Die Sozialarbeiterin blickte sie mit einem Ausdruck von Zurechtweisung an, sagte dann aber, sie werde es versuchen. Danach ging sie mit den beiden Dokumenten in den Nebenraum, um sie zu kopieren.
Da seien sie ihr sehr dankbar, sagte Sarah, die mit Véronique zum Gehen bereitstand, als ihr Frau Stehli die Dokumente zurückgab. Sie wollte sich verabschieden, hielt jedoch einen Moment inne und fragte:
»Was können die Gründe sein, dass ein siebzigjähriger Auslandschweizer, der seine Jugendzeit in Uster verbracht hat, das Sozialamt anruft?«
Frau Stehli zeigte auf den Geburtsschein.
»Sie haben gesehen, wer sein Vater war?«
Sarah nickte. »Ja, das heißt –«
»unbek., also kannte er seinen Vater nicht, und vielleicht kannte er auch die Mutter nicht und wuchs im Waisenhaus auf, oder bei Pflegeeltern,
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