Gleis 4: Roman (German Edition)
es sei schon als Kind ihr Wunsch gewesen, Krankenschwester zu werden, und so habe sie die Pflegerinnenschule in Zürich besucht und habe sich später noch zusätzlich in Gerontologie aus- und weitergebildet, aber da sei sie schon lange erwachsen und selbständig gewesen.
Wieso man eigentlich Alte pflegen wolle, wenn man jung sei?
Das frage sie sich manchmal auch, wenn sie höre, was die jungen Pflegerinnen nach dem Wochenende von ihren Discobesuchen und Parties erzählen, das sei etwa das Gegenteil der Welt im Heim, mit all den langsamen und hilflosen Leuten, für welche die Zeit nicht mehr dieselbe Bedeutung habe und die doch dauernd fragen, wie spät es ist. Genau das habe sie aber immer fasziniert, dass die Menschen im Alter so anders werden, die Starken werden schwach, die Geraden werden krumm, die Gescheiten werden verwirrt, und alle brauchen Hilfe. Doch natürlich heiße das auch, künstliche Darmausgänge entleeren und Katheterbeutel auswechseln, und das müsse man ertragen, gerade kürzlich habe eine Junge deswegen ihre Ausbildung abgebrochen.
Und als das Kind kam?
Das sei nicht leicht gewesen, sie sei von Genf wieder nach Winterthur gezogen, habe eine Wohnung in der Nähe ihrer Eltern gefunden, ihre Mutter sei ihr beigestanden, indem sie ihre Arbeit von Vollzeit auf Teilzeit reduzierte, sie selbst konnte Teilzeit arbeiten, dann gab es noch eine Schwester ihres Vaters, die einsprang, und natürlich den Kinderhort, sie musste sich einfach einen genauen Fahrplan machen, der dann auch von Sarah immer wieder über den Haufen geworfen wurde, wenn sie plötzlich den Keuchhusten oder die Masern hatte, aber irgendwie ging es, jedenfalls glaube sie nicht, dass Sarah Schaden genommen habe an ihrer Kindheit.
Nein, diesen Eindruck mache sie nicht, sagte Véronique, und fragte sie dann: »Kannst du dir vorstellen, sie hätten dir deine Tochter mit sechs Monaten weggenommen?«
Isabelle schüttelte den Kopf.
Eigentlich, sagte Véronique, könne sie immer noch nicht glauben, was ihnen Martins Mutter gestern erzählt habe.
Ja, das falle auch ihr schwer, sagte Isabelle, aber neu sei es ihr nicht, von den Menschen im Pflegeheim habe sie mehr als eine solche Geschichte gehört. »Eine Patientin hatte ich, die war Kindergärtnerin und bekam nach der Geburt eines unehelichen Kindes keine Stelle mehr. Man hatte wohl einfach in jener Zeit ganz genaue Vorstellungen, was recht war und was nicht. Eine andere Patientin war als Kind einer Zigeunerfamilie aufgewachsen und mit sieben Jahren aus dieser Familie geholt worden, weil man überzeugt war, dass Fahrende ein falsches Leben führten. Die Pflegefamilie war dem Unglück dieses Kindes nicht gewachsen, und es begann eine Heim- und Anstaltskarriere, man hat den Menschen die Kinder gestohlen, und den Kindern die Jugend, und war überzeugt, das Richtige zu tun.«
Martin habe einen sehr starken Charakter gehabt, sonst hätte er das nicht überlebt, sagte Véronique. Das werde ihr erst jetzt richtig klar. »So ein wunderbares Land«, fügte sie hinzu, »Berge, Seen, lauter Wohlstand und saubere Häuser, und dann so etwas.«
»Eine schöne Landschaft macht die Menschen nicht besser«, sagte Isabelle.
Sie glaube, die Moral sei die Mutter der Lügen, sagte Véronique, »la morale est la mère des mensonges«. Diesen Spruch habe einmal jemand ans Mitteilungsbrett der katholischen Schule gehängt, in die sie gegangen sei. Verlogen sei die Erziehung durch die Nonnen gewesen in dieser Schule, man habe nicht einmal das Wort »Bauchweh« benützen dürfen, Schmerzen wegen der Periode hätten sie mit dem Satz »J’ai mal en dessous du tablier« anmelden müssen, es tut mir weh unter der Schürze. Und zur Beichte habe man sie gezwungen, für die sie sich Sünden ausgedacht hätten, die sie gar nicht begangen hatten, weil sie wussten, dass man so beim Pfarrer besser wegkomme.
Völlig sicher zu sein, was gut und böse sei und Regeln dafür aufzustellen, die strikte einzuhalten seien, gehöre wahrscheinlich zu den Übeln, die auf der ganzen Welt verbreitet seien, sagte Isabelle.
»Ein solcher Hund gehört an die Leine!« rief hinter ihnen die Mutter eines kleinen Buben, der soeben von einem Labrador beschnüffelt wurde und laut aufschrie.
»Er will nur spielen«, sagte dessen Meister jovial, ein Mann mit einer roten Golfermütze, der sich die Hundeleine über seine Windjacke geschnallt hatte, »komm, Rocco, Fuß!«
Aber Rocco kam nicht Fuß, sondern fuhr fort, sich hautnah für den Kleinen
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