Gleis 4: Roman (German Edition)
zu interessieren, worauf die Mutter ihn zu sich hochhob und dem Hundehalter empört sagte, er solle seinen Köter endlich an die Leine nehmen.
Das sei dann übrigens kein Köter, sagte der Besitzer, sondern ein reinrassiger Labrador, und setzte seinen Weg bergauf fort, ohne die Leine von seiner Schulter zu nehmen, während die Frau, welche mit dem Buben bergab ging, sagte, mit Hundebesitzern könne man sowieso nicht reden, die seien blöder als ihre Viecher.
Reden schon, rief der Mann ihr nach, aber nicht in dem Ton!
Sie könne ja bellen, rief die Frau zurück.
Isabelle, welche den Dialog verfolgt hatte, sagte zu Véronique, dass man auf einem solchen Spazierweg einen Hund an die Leine nehmen müsse, sei allerdings eine Regel, deren strikte Einhaltung sie verteidigen würde.
Véronique lächelte. »J’ai toujours eu la chienne des toutous.«
Was sie damit meine, fragte Isabelle, die den Satz nicht verstand.
»I’ve always been afraid of dogs«, sie habe immer Angst gehabt vor Hunden, und als Martin pensioniert worden sei, habe er mit dem Gedanken gespielt, sich einen Hund anzuschaffen, aber sie sei dagegen gewesen. »Oder was sollte ich jetzt mit einem Hund machen?« Sie schneuzte sich.
Isabelle schlug vor, weiterzugehen. Sie wollten bis Rigi Staffel hinunter, vielleicht sogar bis Rigi Klösterli. Das Wetter war nochmals etwas trüber geworden, nun war das gesamte Alpenpanorama hinter den Wolken verschwunden, und von den Voralpen ragten einzig die beiden Mythen aus einer Wolkenbank heraus, die sich vom Vierwaldstättersee her über den Lauerzersee geschoben hatte.
Véronique fragte, was das für Berge seien, und Isabelle nannte ihr die Namen und sagte, dass auf den höheren und steileren der beiden sogar ein Weg führe, den sie als Kind mit ihren Eltern auch schon gegangen sei.
»Wirklich?« Véronique wunderte sich sehr. Die beiden Gipfel erschreckten sie, sagte sie, »ils m’effraient«, sie sähen wie zwei riesige Haifischzähne aus, die jederzeit zubeißen könnten.
Isabelle lachte über den Vergleich und sagte, so gefährlich seien sie nun auch wieder nicht.
»Wer weiß?« antwortete Véronique, »qui le sait?«
Sie zogen die Reißverschlüsse ihrer Jacken zu, schlugen die Kapuzen hoch und begannen im einsetzenden Nieselregen vorsichtig in die Tiefe zu steigen.
19
Wie kam es dazu, dass Sarah am frühen Sonntagnachmittag zusammen mit Nubi, einer nigerianischen Studentin, vor diesem Wohnblock in Volketswil stand, von dessen vier Balkonen einer mit zwei kleinen Wagenrädern und einem Schweizerfähnchen geschmückt war und ein anderer mit einer einzigen Blumenkiste, aus der Fuchsien über den Balkonrand hinunterhingen?
Der gestrige Besuch bei Konrad Meier und dessen Frau hatte sie verstört, sie hatte das Gefühl, alles falsch gemacht zu haben und wusste dennoch nicht, wie sie es sonst hätte anstellen können, mit den Meiers in Kontakt zu kommen.
Die Vorlesungsnotizen über das Kriegsvölkerrecht musste sie wieder weglegen, sie war außerstande, sich darauf zu konzentrieren. Meier hatte sie nicht angerührt, trotzdem hatte sie das Gefühl, es sei ihr Gewalt angetan worden. Welches Verschulden traf sie dabei? Sie hatte gelogen, ganz klar, sie hatte sich den Zugang zur Wohnung mit unwahren Angaben erschwindelt und hatte sich dann in ihrem eigenen Gespinst verstrickt. Meier hatte sie sofort wiedererkannt, so wie sie ihn wiedererkannt hatte. Wäre er von Anfang an zu Hause gewesen, hätte sich das Spiel mit der Befragung erübrigt.
Dass sie sich überhaupt auf solch ein Spiel einließ, war ihr an sich selber neu. Es hing mit der Wut zusammen, die sie auf diesen Schnüffler hatte, der ihre Mutter mit seinen Anrufen belästigte und sie sogar verfolgte – wieso wollte er wissen, wo sie wohnte, was ging ihn das an? War es da nicht logisch, dass auch sie ein Recht darauf hatte, zu wissen, wo er wohnte?
Am Abend war sie dann in eine Studentendisco gegangen, welche immer am letzten Samstag des Monats von Kolleginnen und Kollegen der juristischen Fakultät organisiert wurde. Diese fand jeweils in einem leer stehenden Restaurant, das auf seinen Abbruch wartete, unter dem Titel »Aufschiebende Wirkung« statt.
Dort hatte Nubi sie angesprochen. Sarah kannte Nubi vom Sehen, sie war eine der wenigen schwarzen Jus-Studentinnen und war zwei oder drei Semester weiter als sie. Sie hatte ihre Haare bis auf einen Millimeter geschoren und trug ein Piercingringlein unter der Na senspitze. Sie saß auf einem
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