Gleis 4: Roman (German Edition)
Barhocker, als Sarah an der Theke einen Gin Tonic verlangte, hatte die Beine über einandergeschlagen, sodass ihre Schnürstiefel auffielen, deren Schäfte über und über mit goldglänzenden spitzen Stiften bestückt waren. Sie waren ins Gespräch gekommen, Nubi hatte von ihr wissen wollen, ob ihre Hautfarbe von ihrem Vater oder ihrer Mutter stamme, hatte ihrerseits erzählt, dass sie mit ihrer Familie als Kind aus Nigeria gekommen sei, aber inzwischen das Schweizer Bürgerrecht habe, »eine waschechte Zürcherin!« Ihre Eltern hätten zwar kürzlich das Einbürgerungsgesuch eingereicht, aber ein Problem dabei sei wohl, dass ihr Vater nicht wirklich Deutsch lernen wolle.
Sarah hatte zu den Schwarzafrikanern ein zurückhaltendes Verhältnis. Manchmal, wenn sie diese Familien sah, die Mütter je nachdem in farbig bedruckten langen Gewändern oder in hautengen Jeans, die Väter in modischer Casual Wear gekleidet, mit drei oder vier glacéschleckenden Kindern im Schlepptau, und dem kleinsten in einem blitzblanken gefederten Kinderwagen, ertappte sie sich bei einem spießbürgerlichen Abwehrreflex. Woher kommen die? Wieso sind es so viele? Wo gehen die zur Schule? Wer bezahlt das alles? Für sie war jedenfalls klar, dass sie nicht zu denen gehörte. So lange, bis der Abwehrreflex auf sie selbst angewandt wurde. Sie nannte das den »Negerhammer«, in den sie immer wieder hineinlief, zuletzt bei Meier, und dann schämte sie sich ihres Mangels an Solidarität mit den Menschen des schwarzen Kontinents, die ihr Glück hier versucht hatten und denen es auf irgendeine Art gelungen war, hier anzukomm en. Hatte nicht sie selbst einen solchen Vater? Und hatte er nicht das Glück gehabt, auf ihre Mutter zu stoßen? Doch dann, und das war der Unterschied, dann war er zurückgekehrt in seinen Kontinent, und die einzige Spur, die er zurückgelassen hatte, war sie, Sarah.
Nubi sagte von sich, sie wolle nach dem Abschluss noch ein Postgraduate-Jahr machen, in England oder den USA , und danach habe sie im Sinn, in Nigeria als Anwältin zu arbeiten.
Sarah nickte ihr anerkennend zu, die Musik, die von einem DJ namens »Summa cum laude« aufgelegt wurde, schwoll zu fast unerträglicher Lautstärke an, irgendein Technosound war gerade angesagt, und als Sarah von der Theke wegwollte, neigte sich Nubi zu ihr, fasste sie mit der Hand am Kopf, kam mit den Lippen ganz nah an ihr Ohr und fragte sie, halb flüsternd, halb rufend: »Hast du Sorgen?«
Sarah war frappiert. Man sah es ihr also an. Sie fragte Nubi pantomimisch, ob sie mit ihr hinauskomme, sie schlugen die Aufforderung zweier Männer, mit ihnen auf die Tanzfläche zu kommen, aus, und draußen, wo die Rauchenden saßen, setzten sie sich auf eine Mauer. Nubi bot Sarah eine Zigarette an, und dann erzählte ihr Sarah die Geschichte von heute Nachmittag und, in einer Kurzform, die Vorgeschichte dazu.
Nubi lachte über Sarahs Frechheit und fragte, wieso sie denn die Puppe fotografiert habe.
Statt einer Antwort zog Sarah ihr Handy aus der Tasche, fuhr auf den Fotomodus und zeigte Nubi das Bild.
Nubi pfiff leise durch die Zähne. Schon oft habe sie gehört, dass es das hier auch gebe, aber gesehen habe sie es noch nie, zum Glück.
Und deshalb standen sie nun vor diesem Vorortswohnblock, Nubi hatte den Haupteingang mit ihrem Schlüssel geöffnet, klopfte kurz an die Tür der Parterrewohnung, die nicht abgeschlossen war, und trat mit Sarah zusammen ein.
Sie hatte ihr gestern gesagt, ihr Vater, der heute als Friedhofgärtner arbeite, sei in Nigeria Medizinmann gewesen und kenne sich mit diesen Dingen aus, und wenn sie ihm das Bild zeige, könne er ihr bestimmt etwas dazu sagen.
Die Wohnung sah überhaupt nicht so aus, wie sie sich Sarah vorgestellt hatte. Nichts Farbiges, lauter normale Mäntel und Jacken an der Garderobe, keine Felle und Jagdspeere an der Wand, da hing sogar ein Poster vom Landwasser-Viadukt der Rhätischen Bahn, und aus der Küche trat, in einen wunderbaren Backofenduft gehüllt, eine füllige Frau mit einer blauweiß gestreiften Kochschürze, die sich als Nubis Mutter Amanda vorstellte und sagte, sie habe gerade Cookies und Chin-chin gemacht, und ob Sarah einen Tee dazu wolle, oder lieber erst nachher, Jo sei in seinem Zimmer und erwarte sie. Nubi half nach, Jo ist mein Vater.
Nachher gerne, sagte Sarah, sie würde lieber zuerst mit Jo sprechen. Nubi klopfte an die Tür neben der Küche, öffnete sie einen Spalt und rief Sarahs Namen. Dann schob sie Sarah sanft
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