Gleis 4: Roman (German Edition)
hinein, blieb selber draußen und schloss die Tür wieder.
Sarah war überrascht und erschrocken.
Das Zimmer war vollkommen leer, es stand kein einziges Möbel darin, es hing kein einziges Bild an der Wand, und auf dem Parkettboden saß mit gekreuzten Beinen ein Mann in Shorts mit nackten Füßen und entblößtem Oberkörper. Er war von ihr abgewandt, und ohne sich nach ihr umzudrehen, forderte er sie auf: »Come here.«
Zögernd ging Sarah um ihn herum und ließ sich dann ihm gegenüber auf ihre Knie nieder.
»Hello, I’m Sarah«, sagte sie.
Der Mann nickte.
Seine rechte Hand hielt einen gewundenen hölzernen Stab mit einem gekerbten Muster, und um den Kopf trug er ein feines Lederband.
»Whom are you worried about?« fragte er sie, um wen sie Angst habe.
»About my mother«, antwortete Sarah.
»Why?«
»My mother has an enemy. I was in his house. I saw this.« Sie zog das Foto der Puppe, das sie sich ausgedruckt hatte, hervor und zeigte es ihm.
Jo nahm es in die Hand und blickte es lange an.
Dann fragte er: »A picture of your mother?«
Daran hatte Sarah nicht gedacht. Da kam ihr in den Sinn, dass sie ja das Handy dabeihatte. Sie öffnete es und suchte unter den Fotos eines, das sie von ihrer Mutter an ihrem letzten Geburtstag gemacht hatte, während einer Schifffahrt auf dem Vierwaldstättersee, sie hatten sich gegenseitig unter der Schweizerfahne am Heck des Schiffes geknipst. Mit dem Zoom ließ sie Isabelle noch ein bisschen näher rücken und reichte dann den Apparat dem Medizinmann.
Jo schaute Isabelles Bild an, danach das Bild der Puppe, dann legte er das Handy und das Foto vor sich auf den Boden, ließ etwas Raum dazwischen, zog einen Zuckerstreuer voll Sand aus seiner Hose und streute um jedes Bild einen Kreis. Dann beugte er sich hinunter und hielt seinen Kopf so, als horche er an den Bildern, zuerst an demjenigen Isabelles, dann an dem der Puppe. Dabei atmete er stoßweise, es klang fast wie ein Stöhnen.
Sarah wurde es immer unwohler. Was mache ich hier, dachte sie, was soll dieser Zauber?
Es dauerte ziemlich lange, bis Jo sich wieder aufrichtete. Er war schweißnass, legte den Stab zwischen die beiden Bilder, wartete lange und sagte schließlich, sie brauche keine Angst um ihre Mutter zu haben: »Don’t worry about your mother.«
»Sure?« fragte Sarah und merkte, wie erleichtert sie war.
»Yes«, sagte Jo, und fügte dann hinzu, jemand anderes sei das Ziel: »It’s against somebody else.«
Sarah erschrak.
»Against whom?« fragte sie fast tonlos.
»I don’t know«, sagte Jo.
Er wusste also nicht, gegen wen.
Bis jetzt hatte Sarah das Gefühl gehabt, er schaue über sie hinweg in eine unbestimmte Weite, nun aber fixierte er sie mit seinem Blick und wiederholte: »I don’t know«, und fügte dann hinzu: »But it’s dangerous.«
Gefährlich also. Sie hatte es geahnt.
20
Als Isabelle die Tür zu ihrer Wohnung öffnete, duftete es nach Spaghettisauce. Einen Moment fragte sie sich, ob sie sich in der Tür geirrt habe, dann sagte sie zu Véronique »Attends« und ging vorsichtig in die Küche.
Auf dem Tisch lag ihr Rüstbrett mit einem Messer, umgeben von Zwiebelhäuten, Zucchettischalen, Peperonistielen, Tomatenresten, offenen Gewürzdöschen, einem großen Kopfsalat und einer aufgeschnittenen »Arrabbiata«-Packung, und auf dem Herd stand eine Pfanne. Die Platte war auf Stufe 1 gestellt, eine Sauce blubberte vor sich hin, rot und vielversprechend, trieb Blasen an die Oberfläche, welche beim Zerplatzen kleine Farbtupfen an die Pfannenwand warfen. Etwas Trotziges ging von der Pfanne aus, wie von einem allein gelassenen Kind, das mit sich selbst spielt. Isabelle drehte die Herdplatte auf 0 und rief halblaut: »Sarah!«
Sie ging zur Tür des Badezimmers, drückte vorsichtig die Klinke nieder, aber Sarah war nicht dort.
Als ob ein Mann am Kochen wäre, sagte Véronique lächelnd, als sie in die Küche schaute.
Beide hatten ihre Schuhe und Regenjacken noch nicht ausgezogen.
Das könne nur Sarah sein, sagte Isabelle.
Sie setzte sich, und auf einmal bekam sie es mit der Angst zu tun. Ob etwa Meier hierhergekommen war, um sie, Isabelle, noch einmal zur Rede zu stellen, und hatte dann Sarah vorgefunden, die offensichtlich ein Überraschungsessen vorbereitete? War es zu einer Auseinandersetzung gekommen? Oder hatte er sie weggelockt? Aber was konnte er von ihr wollen? Es wurde ihr bewusst, wie unberechenbar dieser Mann war.
Oder war er hier gewesen, und Sarah war ihm
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