Gleis 4: Roman (German Edition)
weiter.
Véronique nickte, als ihr Sarah dies übersetzte. Warum nicht, er sei sehr geschickt gewesen, »very skilfull«, und habe Schlosser gelernt, »he was a learned metalworker.« Sie fände es großartig, wenn er es getan hätte, und absolut richtig. Und sie erzählte der Sozialarbeiterin vom Besuch bei Marcels Mutter, die sie aufgrund der Geburtsurkunde gefunden hätten und die ein Leben lang auf ein Lebenszeichen ihres Sohnes gewartet habe, den man ihr nach der Geburt weggenommen habe. Ob sie sich das vorstellen könne, »can you imagine that?«
Ja, das sei leider kein Einzelfall gewesen, antwortete Frau Stehli, sie seien in letzter Zeit vermehrt mit solchen Nachfragen konfrontiert, und sie könne solche Praktiken überhaupt nicht nachvollziehen, manchmal schäme sie sich geradezu, dass sie bei derselben Behörde arbeite, und möchte sich auch gern bei ihr, Frau Blancpain, im Namen dieser Behörde entschuldigen.
Danke, das sei sehr lieb, »very kind«, aber es ändere nichts mehr an Martins Schicksal. Sie berichtete Frau Stehli, was aus ihm geworden war und zeigte ihr auch ein Foto von Martin in seiner Kapitänsuniform.
Ob man herausfinden könne, wer sein Vormund gewesen sei, falls es nicht der Amtsvormund war, fragte Sarah.
Theoretisch ja, das könne aber länger dauern, da es kein systematisches Verzeichnis der Personen gegeben habe, die als Vormund amteten, und falls man ihn fände, sei die Chance, dass er noch lebe, nicht sehr groß, das seien in jener Zeit gewöhnlich bestandene Männer gewesen, und der Altersunterschied zu den Mündeln beträchtlich.
Sarah konnte sich die Bemerkung nicht verkneifen, das sei natürlich praktisch für die Ämter, wenn man nach 50 Jahren alle Ungerechtigkeiten, die sie begangen hatten, dem Reißwolf verfüttern könne.
Da könne sie ihr nicht widersprechen, sagte Frau Stehli, aber sie ihrerseits gebe sich Mühe, vorhandene Spuren aufzufinden, und da habe sie in einem Faltblatt der Mappe noch zwei Zeitungsausschnitte gefunden, die sie interessieren dürften, die habe sie ihnen fotokopiert.
Sie reichte sie ihnen über den Tisch. Sarah überflog sie beide.
Das eine war eine Todesanzeige von Christian Meier, 11.4. 1913 – 5.6.1955, wurde uns durch einen tragischen Unfall entrissen, Mathilde Meier-Schwegler, Konrad und Alfons Meier, Elsa Schwegler. Abdankung am, ehrendes Andenken bewahren.
Das andere war eine Zeitungsnotiz aus dem »Boten der Urschweiz« vom 6. Juni 1955 unter dem Titel »Bergunfall«.
Da wollte ein Vater mit seinen drei Söhnen am Sonntag, dem 5. Juni den Großen Mythen besteigen, war im oberen Drittel ausgerutscht und abgestürzt. Einer der Söhne habe ihn noch vergeblich zu halten versucht. Die Rettungskolonne habe ihn auf einem Absatz der Felswand nur noch tot bergen können.
Am Rande stand, mit Bleistift von unten nach oben geschrieben: »Verh. JG 14.9.d.J.«
Das heiße, sagte Frau Stehli, dass am 14.9. desselben Jahres, also 1955, eine Verhandlung vor dem Jugendgericht stattgefunden habe, und natürlich liege die Vermutung nahe, dass sie mit der Einweisung in die Erziehungsanstalt geendet habe.
Aber warum?
Das wisse sie auch nicht, doch die Bleistiftnotiz deute eigentlich darauf hin, dass die Maßnahme im Zusammenhang mit diesem Unfall ergriffen worden sei.
Und ein Protokoll der Gerichtsverhandlung?
Wenn, dann im Staatsarchiv.
Mit 80jähriger Geheimhaltungsfrist?
Frau Stehli nickte. Oder mit einem Gesuch um Einsicht an den Kanton, und das könne auch wieder dauern.
Und die Erziehungsanstalt Uitikon?
Die gebe es noch, ja, und dort könnten sie es natürlich versuchen. Aber dort sei man auch nicht gerade erpicht gewesen, alte Akten aufzubewahren.
Nach Sarahs Übersetzung seufzte Véronique: »It’s so hard«, und sie habe den Eindruck, Martin sei von den Behörden im ganzen Leben nicht so geschützt worden wie im Tod.
Das alles tue ihr sehr leid, sagte Frau Stehli zu ihr, als sie sich verabschiedeten, »I am very sorry about all this«.
22
Jetzt war der Koffer leer.
Isabelle hatte gemerkt, dass sie keine Lust mehr hatte, irgendwohin zu verreisen. Wenn Véronique übermorgen zurückfliegen würde, blieben ihr nur noch vier Tage bis zur Wiederaufnahme ihrer Arbeit. Die wollte sie in aller Ruhe zu Hause verbringen, könnte ins Kino gehen oder in ein Konzert, würde vielleicht wieder einmal ihre Eltern besuchen oder ihre Schwester, und möglicherweise mit Sarah einen Tag verbringen, an dem sie sich aussprechen konnten über das, was
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