Gleis 4: Roman (German Edition)
hatte.
Diese hatte sich als Gerichtsschreiberstellvertreterin vorgestellt; sie war sehr jung und hätte eine Assistentin an der juristischen Fakultät sein können. Ja, sagte sie, der Verschollene sei zur Zeit seines Verschwindens 17-jährig und offenbar bevormundet gewesen, und im Interesse einer offiziellen Beendigung der Vormundschaft, die nie stattgefunden habe, sei dieser Antrag wohl gestellt worden. Angehörige habe es anscheinend keine gegeben.
Sarah war mit Véronique schon um neun Uhr morgens erschienen, und es war überraschend schnell gegangen, bis ihnen bestätigt worden war, dass sie die Erklärung einsehen durften und bis sie sie hier in diesem Sitzungszimmer auch zu Gesicht bekamen.
»Und die Verhandlung, die dazu geführt hat?« fragte Sarah.
Die müssten sie im Staatsarchiv in Zürich suchen, hier seien nur die Urteilssprüche, und auch die gingen Ende dieses Jahres dorthin, nachdem die 50-Jahresfrist abgelaufen sei.
»Aber dort könnten wir sie einsehen?«
Wohl kaum, war die Antwort, die Frist für die Zugänglichkeit sei bei Gerichtsakten gewöhnlich 80 Jahre oder mindestens 30 Jahre nach dem Tod des Betroffenen.
Sarah war baff. »Und das gilt auch für die Witwe des Betroffenen?«
Ja, sagte die Gerichtsschreiberin, denn vielleicht kämen ja in den Protokollen Tatsachen zur Sprache, von denen der Verstorbene nicht wollte, dass seine Frau sie erfahre.
Sarah übersetzte diese Auskunft für Véronique und sagte, sie finde solche Vorschriften übertrieben und irgendwie »foolish«, und außer dass Martin bevormundet gewesen sei, hätten sie nichts Neues erfahren.
Vielleicht, meinte Véronique, erführen sie ja auf dem Sozialamt noch etwas.
Tatsächlich erfuhren sie auf dem Sozialamt etwas, aber etwas ganz anderes, als sie erwartet hatten.
Frau Stehli, die ihnen am Freitag widerstrebend Bescheid versprochen hatte, teilte ihnen nämlich mit, dass sie bei ihrer normalen Suche nach etwaigen Akten nicht fündig geworden sei. Das sei weiter nicht erstaunlich, da es für das, was über 50 Jahre her sei, keine Aufbewahrungspflicht mehr gebe, und pro Jahr nur etwa fünf oder zehn Dossiers erhalten würden, als Beispiele damaliger Verfahrensweise.
Dann habe sie aber in der Ecke mit den Schachteln gesucht, die sie hier scherzhaft als » XY ungelöst« bezeichneten, in Anlehnung an die bekannte Fernsehsendung, und in denen Fälle abgelegt würden, die nicht richtig abgeschlossen werden konnten oder auf irgendeine Art ein Rätsel enthielten, und dort habe sie unter Wyssbrod Marcel eine Mappe mit ein paar wenigen Hinweisen gefunden.
Die wichtigste Notiz darin:
Die Akten seien seit Ende Mai 1957 verschwunden.
Die Erziehungsanstalt Uitikon, deren Zögling er offenbar gewesen sei, habe damals gemeldet, dass Wyssbrod entwichen sei, was zur Notiz führte »Ausbruch aus Anstalt am 28. Mai 1957. Akten verschwunden, 31. Mai 1957.« »Ev. Diebstahl/Entwendung durch Wyssbrod?« stehe weiter, mit Fragezeichen.
Vorhanden sei bloß der Antrag auf Verschollenheit, unterzeichnet vom damaligen Amtsvormund A.Baumann, und die Verschollenenurkunde selbst, ausgestellt am 4. August 1962.
Sarah starrte auf das Blatt, einen Durchschlag der Urkunde, die sie schon beim Bezirksgericht gesehen hatte, Name, Vorname, geboren am, Bürger von, in Anbetracht der Tatsache, zuletzt gesehen worden am, Ermangelung jeglichen Lebenszeichens, wird hiermit, und fasste dann Véronique zusammen, was ihr Frau Stehli mitgeteilt hatte.
Véronique schüttelte tief aufatmend den Kopf und sagte, es sei so traurig, dass sie ihn selbst nicht mehr fragen könnten, »it’s so sad we can’t ask him anymore.«
Ob der Amtsvormund auch Marcels Vormund gewesen sei, fragte Sarah.
Nicht zwingend, nein. Er habe in dieser Angelegenheit nur die Vormundschaftsbehörde vertreten. Sie nehme an, das Verfahren sei anstelle einer formellen Aufhebung der Vormundschaft wegen Volljährigkeit angestrengt worden, damit dieser Fall einen Abschluss gefunden habe.
Das sei auch die Ansicht der Gerichtsschreiberin gewesen, sagte Sarah, und ob etwa der damalige Amtsvormund noch lebe.
Baumann? Nein, der sei vor mindestens 30 Jahren gestorben, sie habe schon mal eine Rückfrage nach ihm bearbeiten müssen.
Das »Ev.« vor »Diebstahl/Entwendung« und das Fragezeichen dahinter deute für sie darauf hin, dass es kein offensichtlicher Einbruch gewesen sei, also müsste Marcel sehr geschickt vorgegangen sein, wenn er sich seine Akten geholt habe, sagte Frau Stehli
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