Gleis 4: Roman (German Edition)
das stinke ihr manchmal gnadenlos, sagte Sarah, dass all das, was sie da lernen müsse, von Männern ausgedacht worden sei, und fuhr weiter, zu Véronique gewandt, auch Martins Geschichte lasse sich ja nicht mehr ändern, und sie könne sicher sein, dass alle, die damals über sein Schicksal und das seiner Mutter entschieden hatten, Männer waren, und seit wann in Kanada eigentlich die Frauen das Stimmrecht hätten.
»Seit 1940.« Véronique lächelte. »In Québec, meiner Provinz, zuletzt.«
»In der Schweiz 1971. Und der letzte Kanton musste 1990 vom Bundesgericht dazu gezwungen werden! 1990 bin ich zur Welt gekommen.« Ob sie sich das vorstellen könne?
Ja, sagte Véronique, und 1940 sei Martin zur Welt gekommen. Das sei alles noch keine Ewigkeit her.
Sie aßen weiter, »eine Zwischenrunde Salat«, wie sich Sarah ausdrückte.
Meier sei damals sicher auch gegen das Frauenstimmrecht gewesen, sagte sie, und fügte hinzu: »Ich war gestern bei ihm. I was in his house yesterday.«
Erneut legten die beiden Frauen ihre Gabeln auf den Tisch.
Eigentlich hatte Sarah nur sehen wollen, ob es ihrer Mutter gut ging und ob Jo Recht hatte mit seiner Behauptung, der Voodoo-Zauber gelte nicht ihr, und sie hatte sich vorgenommen, nichts von ihrem samstäglichen Abenteuer zu verraten. Aber nun erzählte sie, wie sie sich eingeschlichen hatte und zeigte ihnen auch das Foto mit der Puppe aus der Meier’schen Toilette.
»Deshalb hast du mich nach Kopf- und Herzweh gefragt?« sagte Isabelle.
»Ja, aber der Medizinmann war sicher, dass es nicht dir gilt. Ich hab ihm auch ein Foto von dir gezeigt.«
»Der Medizinmann?« Isabelle glaubte sich verhört zu haben. Sarah biss sich auf die Lippen. Auch das hatte sie für sich behalten wollen, aber nun gab sie diese Episode ebenfalls preis und gestand, dass sie sich eben trotzdem um Isabelle gesorgt habe und froh sei, dass ihr wirklich nichts fehle.
Ihre Mutter war ihrerseits gerührt, dass ihre Tochter sie schützen wollte, wandte aber dann ein, dass sie deswegen einen afrikanischen Medizinmann aufsuche, erstaune sie schon, das sei ja nun etwas, was wir in unserer Zeit überwunden hätten.
Jetzt legte Sarah ihre Gabel nieder.
»Wer ist wir? Wir in Zürich und in Winterthur? Hast du dich nicht mit einem Afrikaner ins Bett gelegt? Was hast du dir dabei gedacht?«
»Ich habe ihn geliebt. Das ist alles.«
»Und ich? Ich habe ihn nicht geliebt, weil ich ihn gar nie kennenlernte. Ich war ein Missverständnis. Ein Arzt und eine Krankenpflegerin werden ja wohl wissen, wie man verhütet, auch wenn man sich liebt.«
»Sarah, ich bitte dich –«
»Alle meine Vorfahren haben Medizinmänner aufgesucht!« Sie schloss einen Moment die Augen und sah wieder die dunkel glänzende Holzfigur vor sich, mit einer langen Ahnenkolonne dahinter. Dann schaute sie ihre Mutter an. »Du kennst nur deine Zürcher Sarah, aber die Sarah aus Afrika kennst du nicht!«
Isabelle war konsterniert. »Und du?« fragte sie leise.
»Ich auch nicht, verdammt noch mal!« schrie Sarah, »aber wenn ich sie kennenlernen will, dann bitte keine Kritik! Das Recht auf Kontakt mit der Familie steht sogar im Kriegsvölkerrecht!«
Véronique erhob sich und sagte, sie gehe wohl besser in ihr Zimmer.
»No, stay here«, sagte Sarah, und fügte hinzu: »You belong to the family!«
Als Véronique zögerte, sagte Sarah: »After all you are my aunt, don’t you remember?« und brach unvermutet in Gelächter aus.
Véronique musste auch lachen und setzte sich wieder. Isabelle fragte, was das bedeute, und Sarah erzählte ihr, als was sie sich in Uster ausgegeben habe, und es sei gut, dass ihr das wieder in den Sinn gekommen sei, bevor sie morgen dahin führen.
Das Gespräch wurde nun ruhiger, Véronique erzählte vom Rigi, dem Wolkenmeer und den beiden Haifischzähnen. Isabelle war froh darüber, aber es war ihr, als sei ein Vulkan ausgebrochen. Die Eruption war vorüber, doch sie nahm sich vor, vorsichtig zu sein. Es war ein Vulkan, der jederzeit wieder ausbrechen konnte.
21
Dann sei also der Antrag auf eine Verschollenenerklärung von der Vormundschaftsbehörde gestellt worden, sagte Sarah zur Gerichtsschreiberin, als sie das Blatt mit dem Urteil des Zivilgerichts vom 4. August 1962 durchgesehen hatte.
Sie saß mit Véronique in einem Sitzungszimmer des Bezirksgerichts Uster und hatte einen geöffneten Band vor sich, in dem die Urteile des Jahres 1962 eingebunden waren, das Spruchbuch, wie es die Gerichtsschreiberin genannt
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