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Gleis 4: Roman (German Edition)

Gleis 4: Roman (German Edition)

Titel: Gleis 4: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Franz Hohler
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erschien. Sie saßen gerade bei der Teambesprechung im Abteilungsbüro, das durch große Scheiben vom Ess- und Aufenthaltsraum abgetrennt war. Isabelle öffnete kurz die Tür, sagte, sie sei schon zurück und gehe schnell Frau Maurer besuchen, privat.
    »Und wie war’s in Stromboli?« rief ihr Cécile zu, ihre Stellvertreterin, etwas zu laut, wie meistens.
    »Erzähl ich später, lasst euch nicht stören«, sagte Isabelle, schloss die Tür und ging durch den Korridor zum hintersten Zimmer. Es war ein seltsames Gefühl, ohne Funktion hier zu sein, noch nie war sie in der Straßenkleidung an den Zimmern entlanggegangen. So musste es sein, wenn man pensioniert war, dachte sie, und war froh, dass sie es noch nicht war.
    Frau Maurer sah nicht gut aus. Ihr weißes Haar war nach hinten gekämmt und zu einem Knoten gebunden, aber an einigen Stellen schimmerte schon die blasse Kopfhaut durch. Eine hellrosa Bluse machte ihr Gesicht noch bleicher, als es schon war. Sie trug eine dicke Hornbrille, saß im Rollstuhl und hatte ein Buch auf den Knien.
    Isabelle nahm einen Stuhl und setzte sich neben sie.
    »Frau Maurer, da bin ich, guten Tag.«
    »Frau Isabelle, guten Tag – dass Sie kommen …«
    »Ich habe Ihnen vier Sprüngli-Pralinés mitgebracht.«
    »Das ist aber lieb. Ich glaube, ich nehme gleich eins.«
    »Bitte.«
    Frau Maurer öffnete die kleine Schachtel, griff sich eins heraus und steckte es sich in den Mund. »Wollen Sie auch eins?«
    »Nein, die sind für Sie, ich habe welche zu Hause.«
    »Ist gut gegen die Schmerzen.« Frau Maurer lächelte. »Kopfweh hab ich halt, dass ich fast nicht mehr lesen kann.«
    »Was lesen Sie denn?«
    »Der König der Bernina. Aber kaum hab ich’s gelesen, vergess ich’s wieder.«
    Sie blickte auf die aufgeschlagene Seite.
    »Da hat Markus Paltram gerade einen gerettet und nach Österreich gebracht. Der ist ihm aber nicht dankbar dafür. Es muss einen Grund haben, nur weiß ich ihn nicht mehr.«
    »Woher haben Sie das Buch?«
    »Von meiner Mutter. Die hat auch gern gelesen. Es gab sogar einen Film davon, den habe ich gesehen. Er lief im Kino ›Central‹.«
    »In Zürich?«
    »Nein, in Uster.«
    »Sie kommen aus Uster?«
    »Ja, ursprünglich. Wissen Sie, was ein Camogasker ist?«
    Isabelle schüttelte den Kopf. »Hab ich nie gehört, nein.«
    »Die müssen einen besonderen Blick haben – ich glaube eben, der Markus Paltram ist einer.« Sie seufzte. »Wissen Sie, Frau Isabelle, das Gute, wenn man so dran ist wie ich, ist, man braucht nicht mehr viele Bücher. Wenn man mit einem fertig ist, kann man gleich wieder von vorn anfangen.«
    Isabelle lachte.
    »Sie haben den Humor noch nicht verloren, Frau Maurer, so lange geht’s einem doch noch gut.«
    »Nein, mir nicht. Letzte Woche ist meine Schwester gestorben, das macht einen auch nicht fröhlicher. So holt er einen nach dem andern von uns ab, der Saukerl.«
    »Wer?«
    »Der Tod. Hoffentlich haut er nicht mit der Sense drein, wenn er kommt.«
    »Aber, Frau Maurer.«
    »Bei mir würde eine Sichel genügen, glauben Sie nicht?«
    »Der wird wohl noch nicht grad kommen.«
    »Aber in die ›Steinhalde‹ kommt er doch häufig. Immer, wenn vorne eine Kerze brennt und ein Foto dasteht. Sie müssten ihm eigentlich schon begegnet sein, wenn er durch die Gänge schleicht, oder nicht?«
    Isabelle lachte.
    »Zum Glück nicht, Frau Maurer.«
    »Ja, ja, er ist wie das Christkindlein. Wenn man die Tür aufmacht und die Bescherung sieht, ist er schon weg.«
    Isabelle wusste nicht, was sagen.
    »Und bis er kommt, vertrocknen wir. Könnten Sie mir nicht einen Schluck Tee bringen, wenn Sie schon da sind? Es steht noch ein Glas auf dem Nachttischchen.«
    »Mach ich, Frau Maurer.«
    Isabelle stand auf und ging zum Nachttischchen.
    Da sah sie das Foto.

23
    Sarah und Véronique saßen in der S-Bahn nach Zürich und rätselten über die Zeitungsnotiz vom Bergunfall und in welchem Zusammenhang sie mit dem Jugendgericht und Martins Einweisung in eine Anstalt stehen könnte.
    Wenn bei der Familie Meier der Vater tödlich verunglückt sei, habe er als Pflegekind wohl so oder so gehen müssen, vermutete Véronique, aber weshalb nicht zu einer andern Familie, sondern in die Anstalt? Er habe ihr immer versichert, er habe nichts Unrechtes getan, und das glaube sie ihm nach wie vor. Wenn er dort zu Unrecht war, hatte er Recht, auszubrechen, und sogar wenn er in das Amt eingebrochen wäre, um seine Akten mitzunehmen, hätte er Recht gehabt.
    Das sehe sie auch so,

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