Gleitflug
hatte. Er hätte ihr von Walings Heldentat auf dem Rübenacker erzählen können. Aber dafür war er zu wütend auf sie.
»Meike erledigt ein paar Besorgungen für mich«, sagte Dolly und schob die Kassenschublade halb zu.
Sie ging zu einem der Spiegel und nahm einen Lippenstift aus einem Make-up-Präsentationsständer. Während sie sich die Lippen rot malte, blickte sie Gieles im Spiegel an. Ihr Rock endete knapp über dem Knie. Gieles schaute auf ihre türkisfarbene Weste, ihre Sandaletten mit Riemchen um die Knöchel. Was er sah, reizte ihn nicht mehr.
Sie spitzte die Lippen und steckte den Stift zurück.
»Meike hat mich nicht enttäuscht.« Sie zog ein Gummiband aus ihrem Haar. »Sie kann anpacken.« Langsam bürstete sie sich die Haare und beobachtete Gieles im Spiegel. Er nahm sich eine Zeitschrift und blätterte sie uninteressiert durch. Dolly konnte ihn am Arsch lecken. Er saß hier nur, weil sie Meike einen Ferienjob gab. Ohne den Job hätte Meike nach Zundert zurück gemusst.
»Gehst du manchmal in mein Schlafzimmer?«, fragte Dolly plötzlich.
Gieles schaute von seiner Zeitschrift auf, ihre Blicke begegneten sich im Spiegel. Er nahm die Schultern zurück.
»Nein, warum?«, fragte er gespielt gleichgültig.
»Nur so«, murmelte sie und brach den Blickkontakt ab.
Er war so wütend und fühlte sich so stark, dass ihm Dollys Verdacht egal war. Der Vibrator fehlte jetzt schon seit über zwei Wochen.
Meike kam mit zwei Einkaufsbeuteln herein. Erst als sie Dolly das Wechselgeld gegeben hatte, wobei sie ununterbrochen redete, entdeckte sie Gieles auf der Rattanbank. Sie lächelten sich verlegen an. Ihr neues Outfit gefiel ihm sehr: eine schwarze Jeans und ein langärmeliges weißes T-Shirt, auf dem DOLLY’S HAIRCORNER stand. Von dem Piercing, der Träne und den Dreadlocks abgesehen, sah sie wie ein ganz normales Mädchen aus. Gieles stand auf. »Wir müssen los. Mein Vater wartet.«
Meike gab ihrer neuen Chefin spontan drei dicke Küsse, rief »Tschühüs!« und hüpfte hinter Gieles her. Auf dem Rücksitz des Dienstwagens schwatzte sie fröhlich von ihrer Arbeit. Dolly schnitt und föhnte, sie selbst durfte Haare waschen und den Boden kehren. Morgen wollte Dolly ihr das Lockendrehen beibringen. Gieles und sein Vater schwiegen. Die ermordete Gans war unsichtbar anwesend.
Als Willem Slob den Wagen auf dem Hof geparkt und schon einen Fuß aus der Tür gestellt hatte, räusperte er sich nervös und sagte zu niemandem im Besonderen: »Von jetzt an schläft jeder in seinem eigenen Bett.«
26
Mein Sonnenschein,
ich habe mich sehr über den Zeitungsbericht von deiner Tischtennisvorführung gefreut. Fred hat mir einen Scan davon geschickt, und glücklicherweise konnte ich in einem Gesundheitsposten bei Gaalkacyo meine Mails abrufen. Vor allem der Absatz, in dem du als begabter junger Mann mit einem sechsten Sinn für Gänse bezeichnet wirst, macht mich stolz. Das war mir offenbar auch anzumerken, denn Juan (ein spanischer Arzt von Ärzte ohne Grenzen) hat mich gefragt, warum ich von einem Ohr zum anderen grinse. Ich habe ihm dein Foto gezeigt.
Mir geht es übrigens gut! Es stimmt, dass Kriminelle ein paar ausländische Entwicklungshelfer entführt haben, aber das waren naive Amerikaner, die im Luxuscamper durchs Land fuhren wie auf einem Schulausflug. So viel Dummheit erlebt man hier nicht oft. Vorsichtshalber schlafe ich jetzt aber bei den spanischen Ärzten in dem Posten.
Am Tag deiner Tischtennisvorführung habe ich eine Kochvorführung veranstaltet, die leider mit einem Zwischenfall endete. Ein sechsjähriger Junge namens Ahmed hat sich mit seinem älteren Bruder darüber gestritten, wer mir helfen durfte. Der Bruder (elf) hat dann Ahmed mit einem Fleischmesser ins Bein und in die Schulter gestochen. Dass Jungen mit Messern aufeinander losgehen, ist hier normal. Alles in diesem Land ist extrem. Die Dürre. Die Hitze. Der Hunger. Die Kämpfe zwischen Clans und zwischen Verwandten. Somalia ist ein Land auf Abwegen. Menschen auf Abwegen, Kinder auf Abwegen.
N achdem Ahmed medizinisch versorgt worden war (die Messerstiche waren zum Glück nicht sehr gefährlich), haben Juan (der spanische Arzt) und ich ihn nach Hause gebracht.
Er, seine Mutter und sein Bruder hausen in einem Verschlag mit einer rostigen Motorhaube als Dach. Die Wände bestehen aus flachgeklopften Getränkedosen und Plastiktüten. So leben sie, aber auch wenn es merkwürdig klingt, es berührte mich nicht. Ich empfand nichts. Ich
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