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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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dachte nur: So, der Junge ist wieder daheim. Und ich fühlte mich auch nicht schuldig, weil es wegen meiner Kochvorführung zu der Messerstecherei gekommen war. Wenn ich jetzt über meine Stumpfheit nachdenke, begreife ich sie nicht mehr.
    Heute Abend gehe ich mit Juan zu einer Hochzeitsfeier. Ein sechzigjähriger Mann hat ein achtzehnjähriges Mädchen geheiratet. Auch solche unappetitlichen Dinge sind hier völlig normal. Erfreulich ist nur, dass die Speisen für die Gäste mit meinen Kochern zubereitet werden. Grüß Meike von mir!
    Alles Liebe, Ellen
    (Dein Vater hat große Angst, dass Meike schwanger werden könnte. Ich habe ihm gesagt, er soll sich nicht so anstellen. Wenn du Kondome brauchen solltest, sie liegen in der Kommode in unserem Schlafzimmer, zwischen den Garantieurkunden und Versicherungsunterlagen.)
    Die Zeit wurde allmählich knapp. Keine vier Wochen mehr, dann landete ihre Maschine. Er hatte von seiner Mutter geträumt. Sie hatte Geburtstag, und er durfte ihr das Frühstück ans Bett bringen. Sie schlief. Ihr Gesicht war sanft und ruhig, und als sie aufwachte, streichelte sie seine Wange. Sie aß ihren Zwieback und nippte an ihrem Tee. Er wartete, bis die Tasse leer war, dann gab er ihr sein Geschenk. Erwartungsvoll schaute er ihr beim Abreißen des Papiers zu. Eine Kristallvase kam zumVorschein. Einen Moment betrachtete sie das glänzende kleine Kunstwerk, als wäre es ein rätselhafter Gegenstand. Dann warf sie die Vase ans Fenster. Die Scheibe blieb heil, aber die Vase zersprang in Millionen winziger Scherben, die auf dem Teppich landeten. »Du weißt, dass ich schöne Dinge hasse!«, kreischte seine Mutter. Sie öffnete das Fenster, sprang und verschwand im Nichts.
    Gieles drehte das Brett um und schaute auf den Plan.
    Juli: Training alle Kommandos Bleib/Flieg/Lande
    Der Juli war angebrochen, und Gieles hatte immer noch nicht alle Kommandos auf einmal geübt. Außerdem wusste er nicht, wie er die Gänse zur Piste befördern sollte. Aus einer Plastikbox hinter dem Brett nahm er einen Playmobil-Mann. Einen Cowboy. Er stellte ihn auf das Gänsespielbrett direkt hinter eine der Nadeln, eine Überwachungskamera. So war er für die Kamera und damit für die Flughafenleute nicht sichtbar. Nun stellte er den Cowboy vor die Nadel. Denn seine Heldentat musste unbedingt aufgenommen werden. Dann konnte das Fernsehen die Bilder endlos wiederholen.
    Er würde die folgende Erklärung abgeben: »Ich habe dort auf meine Mutter gewartet. Es sollte eine besondere Überraschung sein. Und plötzlich sehe ich diese Gänse auf der Piste. Ich wusste sofort, was ich zu tun hatte.«
    Dieser Gedanke munterte ihn auf.
    I was sure I could do it .
    Pfeifend rannte er die Treppe hinunter, wobei er immer zwei Stufen auf einmal nahm. Er ging an der Küche vorbei, aus der schon Geräusche und Stimmen zu hören waren, und betrat das Schlafzimmer seiner Eltern. Er öffnete eine Kommodenschublade mit Papieren, aber Kondome waren nicht darin. Auch in den anderen Schubladen fand er zwischen Socken und Unterhosen keine Gummis. Vielleicht hatte seine Mutter sie doch nach Somalia mitgenommen.
    Er schloss die letzte Schublade und ging in Richtung der Stimmen. Meike stand vor dem Gasherd und rührte mit einem Kochlöffel in einem Topf, während Onkel Fred Zucker in einen Messbecher schüttete. Sie trug ein langes T-Shirt mit Totenschädeln darauf, das ihr bis zu den Knien reichte, und hatte eine Schürze umgebunden. Es war ihr erster freier Tag, und sie schwatzte von ihrer Arbeit im Friseursalon. »Total fett« fand sie ihren Job.
    Gieles schaute auf ihren Hintern, der sich beim Rühren mitbewegte. Die Tintenflecken auf ihren Unterschenkeln waren kaum noch sichtbar. Am liebsten hätte er ihr das Shirt hochgezogen. Schnell fixierte er die Blumen auf dem Tisch, um keine Erektion zu bekommen. Seit der Abreise seiner Mutter waren keine Blumen mehr im Haus gewesen, und nun hatte Meike einen ganzen Arm voll Feldblumen gepflückt. Sie gab sich mit allem große Mühe. Vor ein paar Tagen waren ihre Eltern zum zweiten Mal da gewesen. Meike hatte kaum ein Wort mit ihnen gesprochen, aber sie hatte auch nicht gekreischt oder sie mit Beschimpfungen bombardiert. Zähl bis dreißig, wenn die Wut kommt, hatte Onkel Fred ihr geraten. Es half. Sie brüllte nicht, sie tat bei Dolly ihre Arbeit, sie aß, was auf den Tisch kam, und rauchte nur draußen. Und ohne dass irgendjemand über ihren südlichen Akzent gemeckert hätte, war er inzwischen fast

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