Gleitflug
glücklich .
L ieber Gieles,
was man versprochen hat, muss man auch halten. Hier kommt der Rest des Alphabets. Meiner Geschichte. Der Geschichte meines Vaters und meiner Mutter. Ich hätte dir gern eine andere Version erzählt. Ein Heldenepos, in dem ich die Hauptrolle spiele und alles Unrecht bekämpfe. Unerschrocken, furchtlos. Doch leider bin ich kein Held, obwohl die Zeitungen es damals so dargestellt haben. Nicht einmal ansatzweise. Ich weiß sehr gut, dass ich dich an unserem Familiengeheimnis teilhaben lasse. Und ich bitte dich nicht, es zu bewahren. Im Gegenteil. Geheimnisse sind ungesund. Wie schon ein Blick auf mich beweist.
Die herzlichsten Grüße, danke für den wunderbaren Tag mit dir und Meike.
Bis nächste Woche!
Waling
Ich erinnere mich an die unwirkliche Stille, nachdem an jenem 5. Oktober 1979 das Flugzeug auf unseren Acker gestürzt war. Als würde man einen Stummfilm sehen. Es war so bizarr. Fast genau vor meiner Nase dieses Ungetüm, ein riesiges Tier, das bestimmt weit über hundert Tonnen wog, und ich erwartete, dass es ebenso beeindruckende Geräusche von sich geben würde. Aber es brüllte oder kreischte nicht. Es atmete nicht einmal.
Mein Vater suchte am Rumpf nach einem Einstieg. Ich schaute durch ein Fenster und sah zum ersten Mal in meinem Leben einen Toten. Ich wusste sofort, dass der Mann nicht mehr lebte, sein Kopf war so verdreht, wie es selbst einem Schlangenmenschen nicht möglich gewesen wäre. Weiter hinten entdeckte ich einen Körper, der sich noch bewegte. Verstört ging ich an den Fenstern vorbei, hinter jedem bot sich ein grässlicher Anblick. Die Details erspare ich dir, aber es war offensichtlich, dass der Tod auf unserem Acker gelandet war.
Plötzlich hörte ich doch etwas. Als wären meine Ohren voller Wasser gewesen und jetzt mit einem »Plopp« wieder frei geworden. Mein Vater hatte auf der anderen Rumpfseite ein Loch entdeckt und half den ersten Überlebenden ins Freie. Ich hörte Menschen jammern, ich hörte Sirenen näherkommen. Ich hörte: »Help me, please help me …« Die Stimme flehte leise, aber eindringlich um Hilfe, und zwar von dem halb abgerissenen Cockpit her.
Ich lief zu dem Riss und versuchte zu erfassen, was ich sah. Stücke zerfetztes Isoliermaterial, ein Sitz, verbogenes Metall, ein Damenschuh mit Leopardenmuster, ein Wirrwarr von Kabeln. Mittendrin Parfümfläschchen, die unbeschädigt geblieben waren. FATALE stand in schwarzen Buchstaben darauf, und einen Moment hatte ich das Gefühl, in einem absurden Werbespot gelandet zu sein.
»Please, help me … help me … my leg …«
Mit den Augen suchte ich die Eingeweide der aufgerissenen Maschine nach dem Besitzer der Stimme ab. Ich war mir sicher, dass er im Cockpit war, wusste aber nicht, wie ich dort hineinkommen sollte. Klar denken war nicht möglich, zumal ich jetzt auch einen beunruhigenden, penetranten Treibstoffgeruch wahrnahm. Ich ging zu der zerbeulten Nase, die sich ein Stück in den Acker gebohrt hatte. Die Scheiben des Cockpits waren dick mit Erde bespritzt. Ich wischte mit dem Jackenärmel etwas davon weg und schaute direkt in zwei bebrillte Augen.
Der Pilot trug eine Brille mit runden Gläsern und ein gelbes Polohemd.
Der Pilot war ein Junge in meinem Alter.
Fassungslos starrte ich ihn an. Sein Mund und seine Augen waren weit aufgerissen wie bei Leuten, die eine Achterbahnfahrt machen und genau in dem Augenblick fotografiert werden, wenn der Wagen in die Tiefe zu rasen beginnt. In einem Brillenglas war ein sternförmiger Riss, aber sein Gesicht schienunverletzt. Meine Bestürzung wich der Neugier. Wenn der Pilot ein Kind war, wer war dann der Copilot? Ein Baby?
Ich wischte wieder etwas Erde weg, aber viel mehr konnte ich trotzdem nicht sehen.
»Help! Help me … my leg …«
Die Stimme des Copiloten war es auf keinen Fall. Sein Kopf war beim Zusammenprall mit der Scheibe zermatscht worden wie eine Fliege.
»Großer Gott«, sagte jemand hinter mir. Mein Vater. Ich drehte mich nicht um, mein Blick wollte sich nicht von dem Jungen lösen. Deshalb merkte ich auch nicht, dass mein Vater ins Cockpit zu klettern versuchte, um dem Besitzer der flehenden Stimme zu helfen. Ich nahm nicht wahr, dass unser Rübenacker sich mit Feuerwehrmännern, Polizisten und Rettungssanitätern füllte. Ihre Wagen standen auf unserem Hof und am Straßenrand, weil die Räder in der weichen Erde steckengeblieben wären.
In dem Durcheinander von Menschen in tadellosen Uniformen und blutbespritzter
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