Gleitflug
der Junge das Steuer so stark, dass sich der Autopilot ausschaltete. Der Pilot stellte zu spät fest, dass die Maschine gefährlich schnell sank. Es gelang ihm nur noch, das Flugzeug im allerletzten Moment so abzufangen, dass der »kontrollierte« Flug ins Gelände nicht in einem Inferno endete.
Mein Vater schauderte, dann stand er auf und wanderte wieder barfuß durchs Zimmer. Meine Mutter blieb im Bett sitzen, sie griff nach meiner Hand. Tränen rollten über ihre geröteten Wangen.
»Wir dürfen mit niemandem darüber sprechen, Liebling. Mit niemandem. Verstehst du?«
Nein. Das verstand ich nicht.
»Wir haben es den Leuten von der Fluggesellschaft versprochen«, sagte sie unter Tränen. »Für die Familie des Piloten wäre es furchtbar, wenn bekannt würde, was passiert ist … Verstehst du? Denk an die Frau des toten Piloten … sie darf es nicht erfahren. Ein liebevoller Vater, der seinen Sohn kurz ans Steuer lässt,und diese schrecklichen Folgen … Sie haben auch noch zwei kleine Töchter … Stell dir vor, ihr Vater, ihr großes Vorbild, ganz plötzlich … durch so einen dummen Fehler … Wir dürfen mit niemandem darüber sprechen.«
Sie hörte einfach nicht auf zu weinen. Die ganze Zeit drückte sie meine Hand. Und ich würde diese Hand dafür ins Feuer legen, dass ihre Tränen damals echt waren. Sie empfand wirkliches Mitleid mit den Angehörigen. Was geschehen ist, ist geschehen, sagte sie ein ums andere Mal. Die Wahrheit macht die Toten nicht wieder lebendig.
Der Fluggesellschaft ging es natürlich gar nicht um die Angehörigen, wurde mir später klar. Nach dem Crash setzte sie ihre eigene Version in die Welt: Ursache des Absturzes sei höchstwahrscheinlich eine Fehlfunktion der Querruder gewesen. Pilot und Copilot, beide sehr erfahren, hätten durch geschickte Manöver wenigstens noch vierzig der Menschen an Bord gerettet. Der Flugschreiber war angeblich so schwer beschädigt geborgen worden, dass die Aufzeichnungen des Sprechfunkverkehrs und der Kommunikation innerhalb des Cockpits zerstört waren.
Das Unglück veränderte unser Leben völlig. Das Interesse der Medien ließ bald nach, aber für unsere Umgebung blieben wir Helden. In der Schule war ich plötzlich etwas Besonderes. Sogar Jungen aus höheren Klassen kannten meinen Namen und begrüßten mich mit einem Schlag auf die Schulter wie ihren besten Kumpel. Ich wurde bei allen möglichen Gelegenheiten eingeladen, und das Schönste für mich war, dass auf einmal Mädchen Interesse an mir zeigten. Nicht, dass sie sich vor dem Unglück über mich lustig gemacht hätten. Ich war ja ein hübscher Junge und sogar athletisch gebaut, darf ich in aller Bescheidenheit sagen. Trotzdem hatten sie sich einfach nicht für mich interessiert, und ich mich deshalb nicht für sie.
Drei Wochen nachdem das Flugzeug den Rübenacker ruiniert hatte, bekam ich meinen ersten richtigen Kuss. Von Alice,dem schönsten Mädchen der Klasse, und von dem Tag an war sie meine Freundin. Wegen meiner leidenschaftlichen Verliebtheit merkte ich nicht, dass sich zu Hause die nächste Katastrophe anbahnte.
Während Alice und ich in ihrem Bett auf Entdeckungsreise gingen, saßen meine Eltern mit Leuten vom Flughafen am Tisch. Jeden Tag wurden sie mit Vorschlägen, Argumenten und Vertragsentwürfen bombardiert. Der Flughafen wollte das Land haben, auf dem mein Vater geboren war, und gut dafür bezahlen. Erweiterungspläne gab es schon seit langem, und jetzt sah man eine günstige Gelegenheit für eine Einigung, weil unser Boden durch mindestens tausend Liter versickertes Kerosin verseucht worden war. Meine Mutter zögerte, mein Vater lehnte ab.
Doch der Flughafen setzte sie gekonnt unter Druck. Sie seien doch nicht mehr die Jüngsten. Und ihr Enkel sei ja noch zu jung, um den Betrieb zu übernehmen. Oh, Entschuldigung, das ist Ihr Sohn? Na, auf jeden Fall wird er noch einige Jahre zur Schule gehen. Außerdem, Louisa – Sie haben doch nichts dagegen, wenn wir uns duzen? –, wie attraktiv ist denn die Landwirtschaft für die jungen Leute? Nicht besonders, stimmt’s? Und dann der Boden. Walter, du musst realistisch sein. Auch wenn eine dicke Schicht Erde abgetragen wird, kann vorläufig nichts angebaut werden. Liebe Louisa, lieber Walter, es dauert mindestens zwei Jahre, bis das Land wieder etwas einbringt. Was auf verseuchtem Boden angebaut wird, will niemand haben. Die Erfahrung zeige, dass Landwirte unter den Folgen einer solchen Katastrophe noch sehr lange zu leiden
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