Gleitflug
hätten.
Mein Vater kapitulierte. Er unterschrieb die Verträge, die Finger, die den Stift hielten, waren noch geschwärzt von der geliebten Erde. Er besiegelte seinen Untergang. Wir konnten weiterhin auf dem Hof wohnen und auch die Schwarzbunten behalten, aber mein Vater hatte im Grunde nichts mehr zu tun.In den ersten zwei Monaten zog er morgens noch seine Arbeitskleidung an und beschäftigte sich in der Scheune und im Stall. Es waren genug kleinere und größere Reparaturarbeiten zu erledigen, zu denen er lange nicht gekommen war. Zwischendurch trottete er zum Zaun und starrte zu den Baggern hinüber, die sein Land umwühlten.
Mehrmals habe ich ihn so stehen sehen, aber mich interessierte all das nicht, ich setzte mich aufs Rad und fuhr zu Alice. Für mich gab es nur noch sie und ihr Bett.
Oma Aletta dagegen sah sehr deutlich, dass es mit meinem Vater bergab ging. Man musste auch blind sein, um das nicht zu sehen. Er stand immer später auf und streifte dann ziellos umher. Manchmal fragte ich ihn, ob er etwas suche. Denn so wirkte er. Als hätte er etwas verloren.
»Dein Mann braucht Hilfe«, sagte Oma Aletta zu meiner Mutter. Sie sagte es streng. »Er verkümmert. Sieh ihn dir doch an. Bald ist nichts mehr von ihm übrig.«
Meine Mutter wischte ihre Warnungen beiseite. Sie kannte die Lösung schon: Wegziehen. Dann quälte ihn der Anblick seines Bodens nicht mehr.
Wie gesagt, meine Mutter und ich waren blind. Fünf Monate nach dem Unglück saß mein Vater morgens tot auf seinem Stuhl. Sein Bauernherz hatte nicht mehr schlagen wollen.
Meine Mutter verkaufte nun auch den Hof an den Flughafen, und wir zogen in eine nagelneue Villa, sechs Kilometer entfernt. Ein protziges Haus mit Flachdach, weiß getäfelten Wänden und pflegeleichten Fensterrahmen. Meine Mutter war begeistert, ich gleichgültig. Ich verdrängte alles, was mit meinen Eltern zu tun hatte. Sicher, ich hatte meinen Vater verloren, aber was hätte es genützt, sich gegen den Verlust aufzulehnen? Und dass Mutter sich mit Geld entschädigen ließ, was sprach dagegen? Ich hatte meinen Kummer zusammen mit dem Geheimnis des Absturzes so gut verdrängt, dass mir beides nichts mehr ausmachte.
Schließlich hatte ich jetzt dank des Flugzeugunglücks ein wunderbares Leben, und daran klammerte ich mich krampfhaft. In der Schule gehörte ich nun dazu. Ich überlegte nicht, was das eigentlich bedeutete. Selbstkritische Fragen waren noch nicht meine Sache. Ich war egozentrisch. Zu wissen, dass ich »dazugehörte«, war mehr als genug. Ich überlegte auch nicht, woher wohl das viele Geld stammte. Meine Mutter kaufte sich einen teuren Wagen und zwei Pelzmäntel und fand Vergnügen am Reisen. Sie unternahm allein Flugreisen in europäische Städte, wo sie durch die Geschäfte zog und Schmuck kaufte. Auffällige Goldketten und -ringe waren ihre neue Leidenschaft. Ihre Schwarzbunten und ihre Vorfahren erwähnte sie mit keinem Wort mehr. Sophia und Ide Warrens waren nun wirklich tot. Die Kühe hatte sie verkauft.
Doch auch das ließ mich vollkommen kalt. Ich war kein Mamakind mehr, ich hatte ihren Rockzipfel losgelassen. Ich war ein cooler Typ mit Geld in der Tasche und einer strahlend schönen Freundin. Dass meine Mutter zum Shoppen ins Ausland reiste, passte mir sehr gut. So hatte ich zu Hause das Reich für mich und konnte mich mit meinen neuen Freunden und meiner neuen Spielkonsole vergnügen. Kaum jemand hatte damals so ein Ding, und wir drängten uns alle zusammen vor dem kleinen Bildschirm und spielten nächtelang Digger, Firepower oder Pac-Man.
Oma Aletta besuchte ich nur noch selten. Die alte Frau ging mir mit ihren kritischen Fragen auf die Nerven. »Waling, wo bist du?«, fragte sie mich manchmal, schaute mich durchdringend an und klopfte mit den Fingerknöcheln auf meinen Kopf, als wäre er ein Frühstücksei. Ihr labyrinthisches Atelier empfand ich jetzt als Saustall, ihre knalligen Trainingsanzüge und ihre Exzentrik störten mich. Ich vergrub die große Zuneigung, die ich für sie empfand, unter Scham und Wut. Wütend war ich, weil sie ständig von meinem Vater sprach. Ich wollte nicht überihn reden, denn dann hätte ich gespürt, wie sehr er mir fehlte, und mein ach so wunderbares Leben wäre gar nicht mehr so wunderbar gewesen.
Doch glücklicherweise sorgten andere dafür, dass dieses großartige Leben ein Ende fand. Der Status des Helden ist nur begrenzt haltbar, es sei denn, der Held stirbt früh. Nach anderthalb Jahren war das
Weitere Kostenlose Bücher