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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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sie hören, wie Walter sich im Grab umdrehe!
    Sie schien kurz vor einem Herzinfarkt zu stehen, und dieser Gedanke wirkte auf mich offenbar so entspannend, dass die Kopfschmerzen nachließen. Sie schnappte nach Luft und wurde trotz der vielen Stunden auf der Sonnenbank leichenblass, warf den Kopf zurück, presste beide Hände auf den Brustkorb und röchelte. Dieses Theater dauerte gut zwei Minuten, dann erholte sie sich bemerkenswert schnell, richtete sich kerzengerade auf und begann wieder zu strampeln.
    »Ich wende mich an die Presse«, sagte ich. »Ich werde erzählen, was am 5. Oktober 1979 wirklich passiert ist. Dass ein Kind das Flugzeug gesteuert hat.«
    Meine Mutter hörte auf zu treten und betrachtete mich voller Ekel, als wäre ich eine giftige Qualle in der Brandung. »Die Erklärung der Fluggesellschaft ist die einzig plausible. Ich werde sagen, dass du Unsinn redest, dass du dir das alles aus den Fingern saugst. Alle werden dich für verrückt halten. Deine Schüler, deine Kollegen, sogar Pieternel wird glauben, dass du durchgedreht bist.«
    »Ich treibe weitere Zeugen auf«, wandte ich ein und spürte gleichzeitig schon, wie mich der Mut verließ. Ich wollte, es wäre anders, aber ich bin nie ein Held gewesen. Der hasserfüllte Blick meiner Mutter wirkte lähmend. »Ich finde den Copiloten …«, bluffte ich noch. Doch meine Niederlage war bereits besiegelt. »Ha!«, stieß sie hervor. »Ha! Den Copiloten! Wirklich genial, Waling!«
    Sie tupfte sich die braune Stirn mit einem weißen Handtuch ab, auf das »LCB« gestickt war. Es war alles so furchtbar lächerlich. Damals war ich ein Fan von Denver Clan . Das war eine Fernsehserie – lange vor deiner Zeit – über zwei verrückte Familienclans, die mit Erdöl steinreich geworden waren. Ich sah mir jede Folge an, und meine Mutter anscheinend auch. Sie wargeradezu die Verkörperung von allem, was diese Seifenoper ausmachte. Aber mir fiel erst jetzt auf, dass sie sich die gepflegte Frisur einer der Hauptpersonen, Krystle Carrington, zugelegt hatte.
    »Der Copilot wünscht sich bestimmt nichts sehnlicher, als dass deine sogenannte Wahrheit ans Licht kommt!«, kreischte sie, und das war der Augenblick, in dem ich mich gewissermaßen aus der Seifenoper verabschiedete. Ich verließ ihre Villa mit den griechischen Statuen und dem spießigen Springbrünnlein für immer. Und ich habe meine Mutter nie mehr wiedergesehen und nie mehr mit ihr gesprochen.
    Nein, ich habe mich nicht an die Presse gewandt. Nein, ich habe nicht nach Zeugen oder nach dem Copiloten gesucht. War ich feige? Bestimmt. Ich hatte Angst. Ich klammerte mich an das, was ich hatte. Wie früher hielt ich mich an einem Rockzipfel fest und folgte blind einer Frau. Meiner Frau. Ich wollte Pieternel nicht verlieren. Doch das Geheimnis fraß weiter an mir. Oder vielmehr, ich versuchte, das Geheimnis aufzufressen. Das ging ganz allmählich vor sich, jedes Jahr kamen fünf Kilo dazu, von denen ich dann drei im Sommerurlaub wieder wegwanderte. Übergewichtig wurde ich also noch nicht. Als wir heirateten, konnte man mich als kräftig bezeichnen. Pieternel wurde mollig. Es stellte sich heraus, dass sie unfruchtbar war. Abend für Abend saßen wir zusammen auf dem Sofa und futterten Mandeltörtchen, Bokkenpootjes und Toblerone, wir hatten beide unseren eigenen traurigen Grund, uns mit Süßigkeiten zu betäuben.
    Fünfzehn Jahre nachdem ich meine Mutter zum letzten Mal gesehen hatte, erfuhr ich von ihrem Tod. Ihr Notar bat mich, ihn in seiner Kanzlei aufzusuchen. Ich wollte nicht, wollte an meine verrückte Mutter nicht erinnert werden, aber Pieternel drängte mich. Damals hatten wir gerade beschlossen abzunehmen. Pieternel wog mit neunzig Kilo bei einer Größe von einem Meter siebzig etwa zwanzig Kilo zu viel, und ich brachte schon hundertzehn auf die Waage. Das Wandern bereitete uns allmählich Mühe.
    Der Notar teilte uns mit, dass mir als Alleinerben die Villa und der übrige Besitz meiner Mutter zufielen. Das hatte ich befürchtet. Ihr Realvermögen in den Niederlanden werde nach Abzug aller Außenstände auf etwa eine Million Euro geschätzt. Und dann kam das Schlimmste. Sie verfüge außerdem über Auslandsvermögen auf einem Schweizer Bankkonto. Es handle sich um knapp 1,2 Millionen Euro, sagte der Notar gleichgültig.
    Sprachlos blätterten Pieternel und ich durch ihr Testament und die Kontoauszüge der Crédit Suisse. In diesen Augenblicken, auf den Biedermeierstühlen des Notars, begann unsere Ehe

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