Gleitflug
Frage, meistens erst nach dem Abendessen, wenn ich wusste, dass der Besuch fast vorbei war. Dann kam ich auf die Abfindung durch den Flughafen zu sprechen. Auf das Geheimnis, den Jungen auf dem Pilotensitz, seinen verantwortungslosen Vater und den einbeinigen Copiloten. Hatten die Angehörigen nicht ein Recht auf die Wahrheit?
Es endete jedes Mal damit, dass sie in Tränen ausbrach. Dann stampfte sie in ihren Bootsschuhen (sie hatte gar kein Boot) vorwurfsvoll und wütend über die marmorartigen beheizten Fliesen. Ob ich nun auch noch so anfangen müsse. Ihr eigener Sohn. (Liebling nannte sie mich schon lange nicht mehr.) Ob sie nicht genug gelitten und verloren habe. Ob ich denn nicht eine Sekunde an sie oder an die Familie des Piloten dächte. Wiekönne ich nur sagen, der Pilot sei ein Mörder? Ob ich vergessen hätte, dass ich mit zehn Jahren manchmal den Traktor lenken durfte. Angenommen, ich hätte jemanden überfahren, dann wäre Papa doch auch kein Mörder gewesen! Bei dem Piloten sei es im Prinzip nichts anderes. Auch der Pilot sei kein Mörder, sondern ein fürsorglicher Vater gewesen, und ich solle diese Dinge nun endlich ruhen lassen. Sie steigerte sich derart in ihre Wut hinein, dass ich meinen Mund hielt. Wir kamen nicht weiter. Das Geheimnis des Flugzeugunglücks stand zwischen uns. Als wären die Wrackteile zu einem unüberwindlichen Hindernis aufgetürmt.
Nach dem Lehramtsstudium kehrte ich hierhin zurück. Allerdings war das Haus, das ich kaufte, weit genug von dem meiner neureichen Mutter entfernt. Ich gab Geschichte an einer weiterführenden Schule. Es ging mir gut. Ich begegnete einer netten Frau, Pieternel, die bald zu mir zog. Pieternel und ich hatten vieles gemeinsam. Wir interessierten uns für Geschichte, liebten Bücher, die Berge und das Wandern. Alle Urlaube verbrachten wir in den Schweizer Alpen. Auch in meinem Groll gegen meine Mutter hatte ich in Pieternel eine Verbündete. Meine Mutter, sagte sie kichernd, als wäre Louisa der Witz des Jahrhunderts, sei eine Schande für die Menschheit.
Was Pieternel nicht mochte, waren die Pumpwerkgemälde meiner Oma, die überall im Haus hingen. Sie fand die grellen Farben abstoßend, und da ich immer nachgiebig gewesen bin, nahm ich alle vierundzwanzig Bilder ab, um ihr einen Gefallen zu tun.
Wie gesagt, es ging mir gut. Doch im Laufe der Jahre schien sich das Geheimnis in eine giftige Chemikalie zu verwandeln, und das Fass, in dem sie aufbewahrt wurde, war undicht. Immer häufiger besuchten mich in meinen Träumen der Junge mit der kaputten Brille und sein toter Vater.
An einem Samstagmorgen, als mich die beiden wieder einmal verfolgt hatten und mich rasende Kopfschmerzen quälten, beschloss ich, zu meiner Mutter zu fahren und auf Antworten zu drängen. Diesmal sollten mich ihre hysterischen Weinkrämpfe nicht zum Schweigen bringen, ich würde hartnäckig bleiben. Die Katastrophe lag nun knapp zehn Jahre zurück, die Töchter des Piloten mussten inzwischen erwachsene Frauen sein. Sie konnten die Wahrheit sicher ertragen.
Meine Mutter strampelte vor der verglasten Schiebewand auf einem neuen Hometrainer.
Der Arzt habe gesagt, gegen ihre Steifheit helfe vor allem mehr Bewegung. »Er hat all die Jahre gedacht, ich würde Tennis spielen«, keuchte sie. Es klang überrascht. Dabei trug sie auch mit zweiundsiebzig noch weiße Tennishosen.
»Das wundert mich nicht«, antwortete ich. »Er glaubt bestimmt auch, dass du ein Boot besitzt, weil du immer Bootsschuhe und Skippershirts trägst.«
Ich war in einer seltsam gehässigen Stimmung.
»Ich trage keine Skippershirts«, entgegnete sie. Ich fragte, ob sie den riesigen blauen Anker auf ihrem blauweiß gestreiften T-Shirt übersehen habe. Dabei schaute ich auf ihr faltiges Dekolleté mit der schweren goldenen Gliederkette. Der Anblick des geschmacklosen Schmuckstücks auf ihrer gebräunten alten Haut gab mir die Kraft, die entscheidenden Fragen zu stellen. Ich hörte nicht mehr auf, ich feuerte aus sämtlichen Rohren.
Wie viel hat man euch für das Land gezahlt? Warum durfte die Wahrheit nicht ans Licht kommen? Fürchtete die Fluggesellschaft um ihren Ruf? Wollte sie Schadensersatzklagen abwenden? Habt ihr Schweigegeld angenommen? Wurde auch der Copilot bestochen?
Wütend und verbissen strampelte sie weiter. Ich solle die Vergangenheit ruhen lassen, schrie sie. Wie könne ich ihr und Papa nur so etwas zutrauen! Solche üblen Verdächtigungen zuäußern! Noch auf zehn Kilometer Entfernung könne
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