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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Beine. Später wischte sie sich das Gesäß mit Spitzwegerichblättern ab und entfernte mit einem Zweig den Schmutz unter ihren Nägeln. Hungrig spähte sie nach dem Gehöft hinter der Baumhecke. Sie würde nicht um Nahrung bitten, das war unter ihrem Stand. Lieber borgte sie sich etwas vom Feld und gab es irgendwann wieder zurück.
    Sie kroch durchs Gras bis zum Rand des Ackers. Nach einem flüchtigen Blick auf das Kraut mit den weißen Blüten zog sie an einem Stängel. Er brach ab. Sie schaute zur Seite und sah in einiger Entfernung zwei Frauen auf dem Bauch liegen, sie gruben die Knollen mit den Händen aus. Sophia folgte dem Beispiel und sammelte so viele ein, wie sie tragen konnte. Zurück am Graben entfernte sie das Kraut von den Kartoffeln und wusch sie. Ganz reif waren sie nicht, aber sie schmeckten sogar roh. Was sie nicht essen konnte, bewahrte sie in ihrem Umschlagtuch für Ide auf.
    Auf dem Weg zum See begegnete sie den beiden Frauen. Ihr Gruß wurde mit argwöhnischen Blicken beantwortet. Zu Hause in Zeeland grüßte sie jeder. Sophia drehte sich um und streckte den Rücken die Zunge heraus. »Dumme Kühe«, sagte sie und lachte über ihr eigenes Benehmen, das ihre Eltern auf keinen Fall geduldet hätten.
    Sie hörte sie, bevor sie etwas von ihnen sehen konnte. Es war ein Gemisch aus rauen Stimmen und dem reibenden Geräusch von Spaten. Heiter klang es, als verberge sich dahinter eine geheimnisvolle Verheißung. Dann kamen die Männer in Sicht, die Deicharbeiter. Sie gruben in langer Reihe eine Rinne. Die ausgehobene Erde bildete schon einen kleinen Damm zwischen ihnen und dem Wasser. Zum ersten Mal stand sie dem gefährlichsten Binnengewässer des Königreichs gegenüber. Dem berüchtigten Wasserwolf, der immer mehr Land fraß und deshalb unschädlich gemacht werden musste. Tausende von Deicharbeitern würden ihn bezwingen und in seinem eigenen Bett begraben.
    Der Anblick erschreckte Sophia. Das hier war nicht irgendein See. Zum ersten Mal wurde ihr klar, dass es Jahre dauern würde, auch nur einen Ringkanal um dieses Gewässer zu graben. Und dann musste all das Wasser auch noch abgepumpt werden. Wie viel Zeit würde vergehen, bis dieses Abenteuer bestanden war?
    Sie würde mit dem Lernen furchtbar in Rückstand geraten. Mit dem teuren Privatunterricht, der nach Ansicht ihrer Mutter für ihre Bildung notwendig war.
    »Du machst deinem Namen alle Ehre«, sagte ihr Lehrer.
    Sophia bedeutete Weisheit.
    Was nützte ihr Name, wenn sie doch nicht studieren durfte? Was sollte sie mit Latein anfangen, wenn sie niemals Arzt werden konnte? Wofür brauchte sie Bildung? Um einen reichen Kaufmann aus Tholen zu heiraten? Um Kinder zu bekommen?
    Sophia hatte sich immer wie ein Beobachter gefühlt. Sie sah, wie ihr Vater sich einen Ruf als Arzt erwarb und sich stolz als ersten Hygieniker Zeelands bezeichnete. Abends ließ er sie an seinem Wissen teilhaben, und doch wusste sie, dass ihr Lerneifer niemals belohnt werden würde. Sie würde durchs Fenster beobachten müssen, wie das Leben draußen an ihr vorbeizog. Jahraus, jahrein. Bis ihr Gesicht die gleiche matte Farbe annahm wie die Handarbeit in ihrem Schoß.
    Ide Warrens war ihre Chance, diesem Leben zu entkommen, doch ihre Eltern würden eine Heirat mit ihm nie erlauben. Sie mochten ihn, aber eine Ehe mit Ide wäre kein Fortschritt, nicht einmal ein Stillstand. Es wäre ein Rückfall, ein Absturz.
    Plötzlich entdeckte sie Ide, er überragte alle anderen Arbeiter. Mütze und Gesicht waren schwarz vom Schlamm. Er war klug, aber er konnte nicht lesen. Sie würde ihm alles beibringen. Sie selbst würde ihn unterrichten.
    Von diesen zuversichtlichen Gedanken beflügelt, rannte Sophia auf die Arbeiter zu. Am Rand der schlammigen Rinne blieb sie stehen und rief seinen Namen. Er kam mit dem Spaten in der Hand zu ihr. Sie küsste ihn auf die schmutzigen Lippen und reichte ihm das Umschlagtuch mit den Kartoffeln. Sein Hals glänzte vor Schweiß.
    Schon stand der Aufseher hinter ihm. »Sag ihr, dass sie weg muss. Das Letzte, was wir hier brauchen können, sind Weiber.«
    »Sie geht schon«, entgegnete Ide und gab ihr das Tuch zurück.
    »Was soll ich denn den ganzen Tag machen?«, fragte Sophia wütend.
    »Na ja, den Haushalt besorgen und solche Dinge.« Ide schaute sich ängstlich nach dem Aufseher um.
    »Aber wir haben ja gar kein Haus! Wir haben eine stinkige Hütte ohne Fenster und Möbel.«
    »Bitte, geh doch.« Er schob sie sanft von der Rinne weg. »Gegen Abend bin

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