Gleitflug
Verwundert betrachtete Sophia die blassen Mütter mit ihren noch blasserenKindern. Sie selbst erlebte ein Abenteuer, für sie war all das nicht wirklich. Sie konnte zurück, in ein anderes Leben. Ein Leben in Wohlstand, zu dem saubere Fingernägel, Teeservice und Törtchen, Poesieabende, der Lavendelduft ihrer Mutter und Schulbücher gehörten. Zwischen den Menschen hier und dem Leben zu Hause gab es keine Verbindung. Alles, was auf diesem Land herumlief, war schmutzig und bettelarm. Generationen von Armen waren diesen Kreaturen vorangegangen. Das sah man auf den ersten Blick. Verkrümmte Rücken. Glanzloses Haar. Graue Haut. Lahme Beine. Trübe Augen. Zahnlose Münder. Sophia wusste, dass sie keine Schönheit war, aber ihre Mängel waren gar nichts im Vergleich zu den unzähligen Gebrechen hier.
Sie setzte sich unter einen Baum, damit sich ihre Füße ausruhen konnten. Einige der Männer waren dabei, Hütten mit Dächern aus Schilf oder Stroh zu errichten. Andere saßen oder standen gelangweilt herum, tranken, kauten Tabak, brüllten, streiften ziellos umher.
Sie versuchte zu verstehen, was gesprochen wurde, hörte aber nur ein babylonisches Gewirr von Dialekten. An einer der fast fertigen Hütten lehnte ein kleines Mädchen. Das Kind war höchstens vier Jahre alt. Es weinte, und lange Rotzfäden hingen ihm aus der Nase. Einen Augenblick glaubte Sophia, es habe eine schwarze Hose an, doch in Wirklichkeit waren die Beine des Kindes dunkel von Schmutz. Das Einzige, was das Mädchen am Leibe hatte, war ein zerrissenes Hemd.
»Gehört das Drecksbalg dir?«, schrie jemand. »Ich hoffe nich!«, brüllte jemand anderes. Mit zusammengekniffenen Augen blickte Sophia zu einer Schar von Männern hinüber. Einer von ihnen stapfte plötzlich auf das weinende Kind zu, ein sehniger Kerl mit einem Blutschwamm im Gesicht. Die Geschwulst hatte die Form eines Sterns. Der Mann hob das Mädchen hinten am Hemd hoch, so dass Kopf, Arme und Beine nach unten hingen. Dann strich er mit dem Finger durch die Gesäßspalte desKindes, als wolle er Sirup aus einem Topf schlecken, und roch daran.
»Nee, dat Stinkaas is nich von mir!«, rief er und ließ das Kind wieder fallen.
Sophia schaute die Männer wütend an, sprang auf und ging zu dem Mädchen, das jetzt weinend auf dem Boden lag. Vorsichtig nahm sie es auf den Arm. Sie staunte, wie wenig es wog, so gut wie nichts. Während sie mit großen Schritten zurückging, spuckte sie vor den Männern aus. Doch die hatten nur Augen für ihren Schnaps. Hier achtete niemand auf den anderen.
Erst unter dem Baum bemerkte sie, wie das Mädchen stank: nach Verwesung. Sie nahm ein Nachthemd aus dem Koffer und legte das Kind darauf. Sofort drehte es sich auf die Seite, zog die Knie hoch und schlief ein. Mit einer Mischung aus Rührung und Ekel betrachtete Sophia das stinkende Kind. In seinem verfilzten Haar wimmelte es von Läusen. Krusten aus getrocknetem Kot bedeckten das Hemd und die Beine. Sophia schluckte. Sie war einiges gewöhnt, da sie ihren Vater manchmal bei Hausbesuchen begleitete. Todkranke Frauen im Kindbett hatte sie gesehen und Männer, deren Haut von der Cholera blau verfärbt war. Aber dieses Mädchen war bei weitem das unappetitlichste Geschöpf, dem sie je begegnet war.
Ide stand in der Schlange vor dem Tisch des Vorarbeiters. Er sah weg, als das Kind wie Abfall auf die Erde geworfen wurde. Es ließ ihn nicht kalt, aber er wollte seine Gedanken auf das Gute lenken, nicht auf das Schlechte. Er suchte angestrengt nach irgendetwas, das ihn aufheitern konnte. Die Menschen um ihn herum boten ein trauriges Bild. Sophia saß hinter einem Baum, er konnte nur ein Stück von ihrem Rücken sehen, also wandte er den Blick zum Horizont. An Gott glaubte er nicht. Seine Eltern hatten ihn zu solcher Gottesfurcht erzogen, dass er den Glaubenverloren hatte. Worauf er vertraute, war die Natur, sie hatte ihn selten in Furcht versetzt.
Das Land, auf dem er stand, war sanft und grün. Man sah Wassergräben und Wiesen, hier und dort Pappeln, kerzengerade, um Gehöfte herum angeordnet. In nördlicher Richtung die Ausläufer eines Waldes. Die Übersichtlichkeit dieser Landschaft beruhigte ihn. Ohne etwas über die Gegend zu wissen, konnte er sich vorstellen, wie das Leben in ihr verlief. Ordentlich und gleichförmig. Alles Ausschweifende mochte man hier nicht, das war leicht zu erkennen.
Vor klarem Himmel sah Ide in der Ferne die Segel eines Schiffes vorbeiziehen. Noch ein paar Jahre, und der große See
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