Gleitflug
Alkohol.
»Es sticht.«
»Das ist gut.« Sophia leckte ihm die Finger ab. Spitzbübisch lächelnd öffnete sie ihren Koffer. Die Puppe, die sie immer mit ins Bett nahm, legte sie zur Seite und zog aus dem Durcheinander von Sachen ein Paar Strümpfe. »Komm mal her.« Gehorsam zwängte er den Kopf und die Schultern in die Höhlung. Sein Rumpf blieb draußen, als stecke er im Geburtskanal fest. So etwas erlebte ihr Vater regelmäßig: Kinder, die nicht herauskamen, und Hebammen, die ihn zu spät zu Hilfe riefen.
»Augen zu. Na komm, es geschieht dir nichts.«
Sie packte seine rechte Hand und schüttelte etwas aus dem Strumpf. Ide spürte, wie sie etwas Kaltes auf seinen Finger schob. Sie kicherte. Er öffnete die Augen.
»Ich bin doch keine Frau!«, rief er ärgerlich, als er den Ring sah.
»Und jetzt musst du mir diesen anstecken.«
Sie hielt ihm den Ring ihrer Mutter hin.
»Zu weit«, stellte Ide fest.
»Dann kommt er an meinen Daumen. Passt, sieh mal. Vonjetzt an bin ich Frau Warrens.« Sie sprach mit hoher Stimme wie ihre Mutter. »Frau Warrens. Erfreut, Sie kennenzulernen.«
Sie lachte mit offenem Mund. Ide konnte ihre bröckeligen Zähne sehen.
Plötzlich wurde sie ernst. »Aber du darfst mich niemals schlagen. Verstanden?« Während sie das sagte, stieß sie ihm ihre Knöchel gegen die Wange. Nicht hart, aber kräftig genug, um einen roten Flecken zu hinterlassen.
»Ich trage keinen Schmuck.« Ide warf ihr den Ring in den Schoß, zwängte sich hinaus und stand auf. »Komm, wir gehen. Gleich wird es dunkel.«
Der Wirt zog die Augenbrauen hoch und machte ein bedenkliches Gesicht, als das Paar in seiner Herberge stand. Sie wirkten fast noch wie Kinder. Dann schmunzelte er. Ide mit seinen blonden Haaren und blauen Augen war mindestens zwei Köpfe größer als Sophia. Sie verhandelten nicht einmal über den Preis.
Er gab ihnen Kaffee und Speck mit Kartoffeln. Ausgehungert fielen sie darüber her. Sophia fing schon an, ihre Tischmanieren zu vergessen, und ahmte Ide nach, der mit ausladenden Bewegungen seines Löffels das Essen in sich hineinschaufelte.
»Wunderbare Kartoffeln«, schmatzte er.
»Wir gehen mit unseren Kartoffeln so vorsichtig um wie mit rohen Eiern. Deshalb schmecken sie so gut.« Von seinem Platz hinter der Theke taxierte der Wirt seine jungen Gäste. »Kommt ihr wegen der Polderarbeiten?«, fragte er gutmütig und brachte ihnen einen ganzen Stoß Sirupwaffeln und eine Kanne Kaffee.
Beide nickten und schmatzten.
»Dann seid ihr nicht zu beneiden.«
»Ich bin stark«, entgegnete Ide, hob einen Arm und zeigte den Muskel, der sich unter dem Ärmel wölbte.
»Er ist stark wie ein Zugpferd.« Sophia drückte Ides Oberarm und küsste ihn ohne Scham. Es war schön, ihre Liebe zuIde nicht mehr verbergen zu müssen. Sie küsste den Arm gleich noch einmal.
Nach dem Essen schliefen sie zum ersten Mal zusammen in einem Bett. Zu Hause hatten sie einander nur heimlich in den dunklen Winkeln des Arzthauses erforschen können. Obwohl die muffig riechende Bettstatt eng war, kam es ihnen vor, als hätten sie unendlich viel Platz. Sophia kletterte auf Ide und rieb mit ihren Brüsten über seine Wangen, bis sie rot waren. Sie schob ihre Zunge in seinen Mund, ließ sie darin kreisen und hörte erst auf, als sie beide nach Luft rangen. Ide schmeckte den Schnaps und war benommen, ohne selbst einen Tropfen getrunken zu haben. Die spitzen Halme des alten Strohsacks in seinem Rücken spürte er nicht. Sie zog mit den Zähnen an seiner Lippe und schob die Zungenspitze in seine Nasenlöcher und Ohren.
Sophias Gesicht war nass von Schweiß und Speichel, als sie sich umdrehte und Ide auf Hände und Knie gestützt ihr Gesäß zuwandte. Er richtete sich auf und stieß sich den Kopf an der hölzernen Decke. Bewundernd betrachtete er ihren sanft gewölbten Rücken. Ein Gefühl vollkommenen Glücks erfasste ihn. Er hatte weder Hunger noch Durst noch Schmerzen. Stattdessen hatte er Sophia. Mehr brauchte er nicht.
Langsam streichelte er ihre Gesäßbacken, an denen Sand klebte. Als Antwort auf seine Liebkosungen drückte sie ungeduldig ihre Scham gegen sein steifes Glied. »He, worauf wartest du noch?«, fragte sie heiser und blickte über ihre Schulter. »Jetzt wird es ernst!«
Am nächsten Tag, dem 20. Mai 1840, meldete sich Ide Warrens beim Vorarbeiter hinter dem Gehöft Treslong. Sophia und er waren nicht die Einzigen. Hunderte von Männern, Frauen und Kindern drängten sich dort. Sie sahen armselig aus.
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