Gleitflug

Stoff festgesetzt. Auf nackten Füßen klapperte das Kind die Stände ab. Bettelte um Essen. Hielt das dreckige kleine Händchen auf. Alle starrten es voller Verachtung und Abscheu an. Das Mädchen verkörperte das Unheil, das man fernhalten wollte. Armut und Krankheit lauerten Tag und Nacht. Cholera, Rotlauf, Krätze, Syphilis, Pocken. Alles, wovor man eine Höllenangst hatte.
    Sophia folgte dem Kind über den Markt. Beim Fischstand wurde es mit einem Zischen verjagt. Der Schweinehändler wollte ihm einen Tritt verpassen, nur knapp verfehlte sein Klompen den kleinen Kopf.
    Zorn wallte in ihr auf. Er kam aus dem Bauch und stieg immer höher, bis er ihre Zunge erreichte. Sie stellte sich breitbeinig vor den Händler und stemmte die Fäuste in die Seiten.
    »Ihre Schweine haben mehr Anstand als Sie. Man sollte Sie in diesen Pferch sperren«, sagte sie merkwürdig ruhig. Bevor der Schweinehändler etwas erwidern konnte, drehte sie sich um und ging erhobenen Hauptes weg, dem Kind hinterher. An der Linde hatte sie es eingeholt und hielt es fest. Sie hockte sich hin und lächelte, das Mädchen starrte sie mit leerem Blick an.
    »Hast du Hunger?«
    Immer noch war im Blick des Kindes nichts von einer menschlichen Regung zu erkennen. Der gelbe Schleim in den Augenwinkeln war das Einzige, was nicht grau war in dem kleinen Gesicht.
    »Ist deine Mutter auch hier?«
    Der scharfe Geruch von Kot.
    »Kannst du sprechen?«
    Auf der Oberlippe eine Kruste aus Blut und Rotz.
    »Komm, ich habe etwas zu essen für dich.«
    Schweigend ging das Mädchen mit zu der Öffnung im hohlen Baum. Sophia hockte sich wieder hin und forderte es mit einer Geste auf, die Höhlung zu betreten. Das Kind gehorchte. Es konnte ohne weiteres darin stehen. Sophia blickte sich um, Vorsicht war geboten. Sie brach unter dem Tuch ein Stück Käse ab und legte es in das erhobene Händchen.
    Das Kind aß nicht, es fraß. Wie ein ausgehungertes Tier. Es sabberte, schmatzte, schlang. Unersättlich streckte es ihr immer wieder die schwarze Klaue hin, wobei es tierische Schreie ausstieß. Den ganzen Käse und ein Stück Wurst stopfte es in sich hinein. Als nichts mehr übrig war, folgte es Sophia wie eine läufige Hündin. Stehlen konnte sie an diesem Tag nicht mehr; mit dem stinkenden Kind im Schlepptau wäre sie zu sehr aufgefallen. Sie kehrten zusammen zur Siedlung zurück. Unterwegs, auf dem Sandweg, erbrach das Kind seinen gesamten Mageninhalt.

5
    Gieles las die Geschichte dreimal. Wer waren Ide und Sophia? Hatte dieser Super Waling das selbst geschrieben? Unmöglich. Er war einfach viel zu fett, um über bestimmte Dinge schreiben zu können, über Sex.
    Auf Hände und Knie gestützt ihr Gesäß zuwandte … ihre Gesäßbacken, an denen Sand klebte … drückte sie ungeduldig ihre Scham gegen sein steifes Glied … schob die Zungenspitze in seine Nasenlöcher und Ohren.
    Das mit den Nasenlöchern und Ohren fand er ein bisschen eklig, trotzdem erregte es ihn.
    Er schob die Blätter in seine Schreibtischschublade. Darin lag zwischen allerlei anderem Zeug eine zerknitterte Eintrittskarte. Für die Flugschau von Christian Moullec und seiner Frau Paola. Er hatte sie sich letztes Jahr mit seinem Vater und Onkel Fred angesehen. Seine Mutter war da schon wieder für zwei Wochen in irgendein staubtrockenes Sahel-Land gereist.
    Gieles nahm die Eintrittskarte in die Hand und betrachtete das Foto von Moullec in seinem magischen fliegenden Dreirad, von Zwerggänsen umringt. Moullec hatte graues Haar, wie Captain Sully. Gieles war nur einer von Tausenden Zuschauern gewesen, die zu Moullecs Ultraleichtflugzeug hinaufschauten, und doch hatte er das Gefühl gehabt, der Einzige zu sein. Als würde Moullec für ihn allein eine Show veranstalten. Musik von Ennio Morricone schwebte über das Gelände, und ein Mann quasselte die ganze Zeit in ein Mikrophon. Was er über Moullec erzählte, wusste Gieles längst, aber das störte ihn nicht. Er genoss das Schauspiel.
    Als die Lautsprecherstimme erklärte, Gänse würden immer zu dem Ort zurückkehren, an dem sie fliegen gelernt hätten, hatte sein Vater gesagt: »Dann ist zu hoffen, dass Ellen das auch tut.« Onkel Fred erwiderte ruhig, Differenzen seien etwas ganz Normales. In dem Moment war ihm zum ersten Mal klar geworden, dass zwischen seinen Eltern etwas nicht in Ordnung war.
    Er legte die Karte auf die Geschichte von Ide und Sophia und schloss die Schublade.
    Seine Verabredung mit Super Waling würde er sausen lassen. Mit diesem Wal