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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Gegenwart nicht solche grässlichen Geschichten erzählen. Aber Ellen antwortete, es seien keine Geschichten, sondern die Wirklichkeit. Und an die Wirklichkeit, fügte sie sehr bestimmt hinzu, könne man sich nicht früh genug gewöhnen.
    Er dachte an Dolly und ihre müden Augen. Als er letzte Woche zum Babysitten kam, war sie laut schimpfend durch die Wohnung gestampft. Sie hatte für ihr Haus ein Angebot bekommen, das sie unverschämt niedrig fand. Eine Baubude brächte noch mehr ein, meinte sie.
    Gerade als der nächste düstere Gedanke sich breitmachen wollte, hielt Super Waling an.
    »Da sind wir!«, rief er fröhlich. Sein Gesicht wirkte wie immer alterslos. Sie standen jetzt nebeneinander auf dem Deich und betrachteten das riesige Dampfpumpwerk.
    Weil er so in seine Grübeleien vertieft war, hatte Gieles es bisher nicht bewusst wahrgenommen. Es sah aus wie eine Burg, aber irgendetwas stimmte damit nicht. Es waren die Arme, die das Gebäude ausstreckte. Eiserne Arme, die aus Turmfenstern herausragten und nach der Luft griffen.
    »Ist es nicht großartig«, seufzte Super Waling. »So elegant und gewaltig zugleich, und die Zeit hat ihm nichts anhabenkönnen. Eine große Dame eigentlich. Schon mehr als hundertsechzig Jahre alt.«
    Er warf Gieles einen strahlenden Blick zu.
    »Gebrauch mal deine Fantasie. Denk dir die Autos weg, die Verkehrsschilder, die Ampeln. Denk dir diesen potthässlichen Betonkasten da weg, dem jedes Gefühl für Anstand fehlt. Konzentriere dich auf die große Dame. Schau dir die starken Arme aus Gusseisen an. Dreihundertzwanzigtausend Liter Wasser konnten diese Arme abpumpen. Pro Minute! Das finde ich wirklich beeindruckend«, sagte er und fuhr vom Deich auf den Parkplatz des Dampfpumpwerks. Zu Gieles’ Erleichterung waren keine anderen Besucher zu sehen.
    »Heutzutage gilt es ja als Leistung, wenn jemand im Fernsehen die Nationalhymne rülpsen kann. Entschuldige das unappetitliche Beispiel, aber die Leute tun die idiotischsten Dinge, um Aufmerksamkeit zu erregen.« Seine Stimme wurde immer lauter. »Mich beeindruckt, dass Menschen fähig waren, mit drei Pumpwerken einen ganzen See leerzupumpen. Einen riesigen See! Wo wir jetzt stehen! Achthundert Millionen Kubikmeter Wasser, Gieles! Plötzlich wurde das Unsichtbare sichtbar. Stell dir vor, was das für ein Gefühl gewesen sein muss, als auf einmal der Seeboden vor einem lag.«
    Gieles versuchte es sich vorzustellen, aber das Dampfpumpwerk und der Seeboden wurden in seiner Fantasie nicht lebendig. Die Fragen in seinem Kopf lenkten ihn zu sehr ab.
    Kann er seinen Schwanz sehen?
    Super Waling holte eine Flasche Wasser und eine Dose Cassis-Limonade aus der Leinentasche in seinem Korb. Er reichte Gieles die Dose.
    »Ich habe dir den zweiten Teil mitgebracht«, sagte er. »Über Ide und Sophia Warrens. Ich weiß nicht, ob du den ersten gelesen hast und ob du etwas damit anfangen konntest. Vielleicht ja nicht.«
    »Doch, doch«, sagte Gieles schnell. »Ich fand es ziemlich gut. Den Rest würde ich auch gerne lesen.« Seine Wangen wurden heiß, weil er so offensichtlich scharf auf den zweiten Teil war. Super Waling sollte nicht glauben, dass es ihm um die Sexstellen ging, deshalb versuchte er, sich eine harmlose Frage auszudenken.
    »Der See«, begann er und dachte angestrengt nach. »War der denn wirklich so … so gefährlich?«
    Super Waling lächelte und trank ein wenig Wasser.
    »Mach mal die Augen zu. Tu’s ruhig. Niemand sieht dich. Mach sie zu. So, ja. Und lass sie einen Moment geschlossen. Stell dir vor, wir wären auf einem Segelschiff. Du kennst ja diese typischen historischen Boote mit bauchigem Rumpf, die aussehen, als hätten sie sich überfressen. Die braunen Segel sind gesetzt, aber es herrscht Flaute, deshalb treiben wir langsam mit der Strömung. Wir sind auf dem Weg nach Amsterdam, wo wir mehrere hundert Zentner Torf abzuliefern haben. Wir wärmen uns in der wässrigen Novembersonne und erzählen uns Schauergeschichten vom Wasserwolf, wie man den See nennt. Meistens verhält sich der Wasserwolf ruhig, aber wehe, wenn er wütend wird! Seine Riesenwellen, so hoch wie die Hügel im Alpenvorland, verschlingen immer wieder Fischerboote. Deiche brechen, und der arme Teufel, der mit seinem Fuhrwerk zu entkommen versucht, wird vom Wasserwolf eingeholt und zusammen mit seinem Pferd aufgefressen. Nur ein einziges Mal schnappt der Wasserwolf zu, und weg sind sie! Eigentlich ist es wie bei einer Schlange, die nur lebende Beute frisst.

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