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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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Solche Geschichten erzählen wir uns, aber Angst haben wir nicht, weil es windstill ist und wir nicht merken, wie unruhig die Möwen und Kormorane übers Wasser fliegen. Wir sind taub für das Gebell der Hunde, die weit weg auf den Gehöften anschlagen. Wir sind blind für die Aale, die eilig durchs Wasser schießen. Diese Tiere können Erschütterungen auchauf größere Entfernung wahrnehmen. Und Erschütterungen«, flüsterte er – Gieles sah, dass jetzt Super Waling selbst die Augen geschlossen hatte –, »die gibt es. Erst ist das Wasser noch so glatt wie Babyhaut, aber dann kommt aus dem Nichts eine Welle. Eine einzige Welle, aber was für eine! Eine riesige Flutwelle!«
    Super Waling öffnete die Augen und schaute Gieles durchdringend an. »Der Wasserwolf rast unaufhaltsam heran, ein Ungeheuer, das immer größer wird, je näher es kommt. Wir starren ihm mit offenem Mund entgegen. Uns bleibt nicht einmal Zeit, Angst zu haben, und erst recht nicht, uns in Sicherheit zu bringen, denn auf einmal hebt das Ungeheuer unser Boot in ganzer Länge hoch, fünfzig … sechzig Fuß! Wir sehen Kirchtürme, unsere Holzhäuser kommen in den Blick, und als das Ungeheuer uns ganz hochgehoben hat, können wir sogar die englische Küste sehen. Einen Augenblick scheinen wir stillzustehen, aber dann reißt uns das Ungeheuer mit sich hinunter. Wraahhhhh! Mit aller Kraft wirft es uns an Land, wo wir zerschellen. An uns und dem Schiff bleibt nichts heil. Wir brechen uns sämtliche Knochen, auch die, von denen wir nicht wussten, dass wir sie haben. Das Ungeheuer rast noch ein Stück landeinwärts und verschlingt alles, was es findet. Als es endlich seinen Hunger gestillt hat, zieht es sich wieder zurück und nimmt uns mit. In die Tiefe.«
    Super Waling trank einen Schluck Wasser.
    »Das Einzige, was man von uns wiederfindet, sind meine kupferne Tabakdose und dein Stiefel. So ist es gewesen. Unser eigener Tsunami am 1. November 1755. Genau in dieser Gegend.«
    »Wie war denn das möglich?«, fragte Gieles ungläubig.
    »Ein schweres Erdbeben in Lissabon hatte sogar noch hier im Seeboden gefährliche Erschütterungen ausgelöst.«
    »Tatsächlich?«
    » Yes, sir .«
    »Wow«, sagte Gieles ganz ehrlich, »das ist eine irre Geschichte für meinen Aufsatz.«
    Super Waling schaltete den Motor seines Elektrokarrens wieder ein und rollte los. Gieles stellte sein Rad im Ständer neben dem Eingang ab. Der Dicke fuhr einfach in das Gebäude hinein.
    Die Frau an der Informationstheke stand sofort auf. »Guten Tag, Waling«, sagte sie und kam auf ihn zu. Sie sprach sehr höflich, als wäre Super Waling eine wichtige Persönlichkeit.
    Von Adel!
    Mit ihren roten vorquellenden Augen erinnerte die schmächtige ältere Frau an ein Reptil. Eine Art Gecko. Sie schüttelte Super Walings Hand langsam, als wolle sie ihr Gewicht schätzen. »Wie geht es dir denn, vor allem gesundheitlich?«, fragte sie.
    »Ausgezeichnet«, sagte Super Waling und legte seine andere Pratze auf ihre Hand. »Bestens.«
    Als sei es ihr eben erst eingefallen, rief die Frau erschrocken: »Mein Gott, ich habe dich in der Zeitung gesehen. Wie du im Acker festgesteckt hast.« Beim Sprechen quollen die Gecko-Augen noch weiter heraus.
    »Die Feuerwehr hat mich gerettet«, antwortete Super Waling lächelnd. »Das Leben hält viele Überraschungen bereit. Darf ich dir Gieles Slob vorstellen. Ein netter junger Mann, der mich bei einer anderen Gelegenheit gerettet hat, als mir mein Karren einen Streich spielte.«
    Gieles lächelte verlegen.
    »Manche Leute werden nie gerettet.« Die Frau tätschelte Walings Hand. »Du hast Glück, Waling.«
    »Und ob«, antwortete er und schaute wieder Gieles an. »Gieles schreibt für die Schule einen Aufsatz über das Pumpwerk. Er könnte also gut ein bisschen Prospektmaterial gebrauchen.«
    »Natürlich.« Die Frau ging zur Theke.
    Irgendwo im Gebäude war leiser Applaus zu hören.
    »Eine Hochzeit«, erklärte sie und reichte Gieles einen Stapel Prospekte. »Im Deichverbandssaal.«
    Super Waling nickte und fuhr zur Treppe, neben der ein Rollstuhllift eingebaut war. Routiniert rollte er auf die Plattform. Seine Oberschenkel quollen über die Ränder des Sitzes.
    »Den Bericht in der Zeitung habe ich auch gesehen.« Langsam ging Gieles neben dem Lift die Treppe hinauf. »Ich wusste nicht, dass du so heißt. Waling Cittersen van Boven.«
    Mit einem leichten Ruck kam der Lift zum Stillstand.
    »Manchmal verändert sich ein Mensch so, dass sein Name nicht

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