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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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wurde. Gieles setzte es in die Pelzmütze und legte sie neben sein Kissen. Er schob die Hand in die Mütze. Das Tierchen suchte die Wärme und schmiegte sich an seine Finger. Das Piepsen verstummte.
    Gieles schloss die Augen. Gravitation war am Nachmittag online gewesen, und er hatte feierlich versprochen, ihr Fotos von den Küken zu mailen. Er stellte sich schon allerlei aufreizende Bilder von ihr vor, mit denen sie ihn hoffentlich belohnen würde.

8
    Um halb zwei fuhr Gieles zu seiner Verabredung mit Super Waling. Beim Wäldchen im Exil begegnete er der alten Dame mit den restaurierten Augen, sie hatte Pfefferminze gepflückt. Sie sprach ihn an, also musste er wohl stehen bleiben.
    »Schön, dass ich dich noch treffe«, sagte sie. Sie hatte einen lustigen Strohhut auf, der mit künstlichen Blumen geschmückt war. »Wir fahren gleich nach Hause. Wäsche waschen, Johans Medikamente holen, solche Sachen. Aber wir kommen bald wieder. Wir finden die Gegend hier herrlich.«
    Gieles hatte noch nie jemanden sagen hören, dass er die Gegend herrlich fand. Er lächelte die Frau an, sie lächelte freundlich zurück, und sie verabschiedeten sich. Im Schatten einer Pappelreihe radelte er eine schnurgerade Straße entlang. In der vergangenen Nacht, als sich das Küken zufrieden in seine Hand gekuschelt hatte und schlief, hatte die Neugier seine Scham besiegt. Er musste sich mit Super Waling treffen. Außer Neugier gab es noch etwas anderes, das ihn umstimmte. Er war sich nicht ganz klar darüber.
    In einiger Entfernung sah er ihn schon. Einen leuchtenden Tupfen vor dem dunklen Hintergrund der Polderlandschaft. Noch konnte er umkehren. Die Wahrscheinlichkeit, dass Super Waling ihn entdeckt hatte, war gering. Er fuhr langsamer. Der Tupfen wurde allmählich größer, und dann war deutlich die Farbe von Super Walings Kleidung zu sehen. Rot.
    Noch langsamer fahren ging nicht, sonst fiel er hin. Er wollte umkehren. Die Vorstellung, mit dem dicksten Mann weit und breit gesehen zu werden, war plötzlich wieder unerträglich. Erbremste und blieb stehen. Aber der Tupfen wurde zu einem Rettungsring, aus dem gewinkt wurde. Jetzt wegzufahren wäre brutal. Der Rettungsring kam auf dem rollenden Untersatz auf ihn zu und kurz vor seinem Vorderrad zum Stillstand.
    Super Waling schien seit ihrer Begegnung vor zwei Wochen noch dicker geworden zu sein. Er war in einen Jogginganzug gezwängt. »Gieles! Schön, dass du gekommen bist!«, sagte Waling. Er klang überrascht.
    Gieles murmelte einen unverständlichen Gruß und blickte sich hastig um.
    Pottwal .
    »Folgst du mir? Wenn wir nebeneinander fahren, kommt keiner an uns vorbei.«
    Super Waling wendete sein Elektromobil und rollte los. Auf dem Radweg neben der Straße waren sie nicht zu übersehen. Die Blicke der Entgegenkommenden sagten alles. Manche Autofahrer bremsten sogar etwas ab, um Super Waling besser anstarren zu können.
    Gieles wünschte sich eine dichte Hecke, hinter der sie unsichtbar gewesen wären. Oder ein Sonnenblumenfeld, das die Leute abgelenkt hätte. Palmen und blaues Meer im Hintergrund hätten den Anblick von Super Waling schon erträglicher gemacht. Aber hier auf dem Polder gab es nichts zum Verstecken und nichts, das ablenkte. Alle konnten einen sehen, alle schauten einen an, weil es nichts anderes zum Anschauen gab. Man war ohne Schutz. Zum ersten Mal ärgerte er sich über diese Landschaft. Er fuhr langsamer, damit man nicht gleich sah, dass sie zusammen unterwegs waren. Bis Super Waling sich umblickte und dafür sorgte, dass der Abstand wieder kleiner wurde.
    Gieles zwang sich, an etwas Unerfreuliches zu denken, an etwas wirklich Schlimmes. Die E-Mails seiner Mutter fielen ihm ein, die immer deprimierter klangen. In den ersten Jahren hattesie zum Beispiel noch exotische Blüten beschrieben, die sie gesehen hatte. Oder sie erzählte staunend von den seltsamen Speisen und machte Witze darüber (»Mein Sonnenschein, du wirst es nicht glauben, gestern habe ich gewokte Mehlwürmer gegessen!«). Aber sie schien ihr Staunen und ihren Humor unterwegs auf irgendeiner Sandpiste verloren zu haben.
    Jetzt berichtete sie von afrikanischen Frauen, die vergewaltigt wurden, wenn sie in der Wüste nach ein paar Spänen Brennholz suchten. Oder von einem zweijährigen Mädchen, das von einem Hund gefressen worden war. Ellen hatte es mit angesehen, und als sie wieder zu Hause war, fing sie immer wieder davon an. Kein Detail ließ sie aus. Sein Vater hatte gesagt, sie solle in Gieles’

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