Gleitflug
seinen entblößten Bauch. Ihre Unterhose hatte sie noch nicht wieder angezogen. Sie hatten sich wild und lautstark geliebt. Es gab nicht viele Augenblicke, in denen sie allein waren. In der Hütte waren sie ständig von Männern umgeben. »Abgesehen hiervon«, sie drückte den Unterleib noch einmal fest an ihn, »kannst du auch wunderbar zeichnen.«
Ide trank nie – nicht aus Prinzip, sondern weil er es nicht mochte; in seinen freien Stunden zeichnete er. Während sich die anderen Deicharbeiter abends in einem der zahllosen Ausschänke volllaufen ließen, zog er sich mit einem Stück Papier und einem Bleistift zurück. Er zeichnete Landschaften. Nicht, wie sie waren, sondern so, wie sie später einmal sein konnten. Utopische Ansichten des trockengelegten Sees. Den sichtbar gewordenen Seeboden, wie er in Ides Fantasie aussah, übersät mit geheimnisvollen Schätzen und Schiffswracks. Und auf dem jungfräulichen Boden des neuen Landes ließ er malerische Dörfer, üppige Obstgärten, großzügige Landhäuser, lebhaft fließende Bäche und saftige Weiden mit Pferden und Kühen entstehen.
»Da wohnen wir«, sagte er dann voller Überzeugung und zeigte auf den schönsten Bauernhof mit der größten Scheune. »Und hier pflanze ich Obstbäume. Deine Obstbäume.«
Endlos konnte er Geschichten über das neue Land ausspinnen. Über ihr neues Leben. Er sprach von den vielen Goldstücken, die er finden würde, wenn der See das Land freigegeben hatte.
»Erzähl noch einmal von uns«, flüsterte Sophia. Sie lag jetzt ganz ruhig, ihre Lippen waren nah an seinem Ohr. »Wie sieht unser Leben aus? Wie sehen wir aus?«
»Wir wohnen auf dem besten Hof weit und breit, mit zehn Hektar Land und zehn Knechten.« Ide klang schläfrig und heiser. »Wir haben sechzig Kühe und fünf Pferde, und unsere Vorratskammern und Kleiderschränke sind gut gefüllt. Sonntags kommen dein Papa und deine Mama zu Besuch und gehen mit unseren Kindern spazieren.«
Das Schuldgefühl war wie ein Stich durchs Herz. Sophia schwor sich, ihren Eltern zu schreiben. Von den Abenteuern, die sie erlebte, dem Leben, das sie führte. Dem wirklichen Leben.
Plötzlich wurde sie unruhig; sie richtete sich auf und setzte sich neben Ide. Sie blickte aufs Wasser. Rings um seine Ufer wurde der See von den Deicharbeitern belagert, doch er blieb unerschütterlich. Vielleicht aber auch nicht. Vielleicht brütete er irgendetwas aus, bereitete er einen Ausfall vor.
Auch Ide setzte sich nun. Er schüttelte Grashalme aus seinem Haar und zog sein Hemd herunter. »Du bist doch nicht schwanger, oder?«, fragte er plötzlich.
»Pf f f, zum Glück nicht«, sagte Sophia. »Ich blute ja noch nicht einmal. Man muss unten erst bluten, vorher kann man keine Kinder bekommen.«
»Und wann fängt das Bluten an?«, fragte er unsicher.
»Ich weiß es nicht. Hoffentlich noch lange nicht. Allein der Gedanke, in dem dreckigen Verschlag ein Kind zu kriegen, ist grässlich. Kein Bauer würde sein Vieh darin unterbringen.«
Sie dachte an die Kinder in der Siedlung. Ein paarmal hatte sie diese hungrigen, eingerissenen Münder mit einem Stück Brot gefüttert, aber sie hatte es bald aufgegeben. Es führte nur zu Streit und Schlimmerem, die Kinder kämpften um jeden Krümel.
Das einzige Kind, dem sie noch zu essen gab, war das kleine Mädchen. Weil es einsamer, elender, dreckiger und kränker als alle anderen war. Es sprach kein Wort, aber taub konnte es nicht sein. Als Sophia es vor kurzem aufgefordert hatte, die Zunge herauszustrecken, tat es das sofort. Die Zunge hatte einen grauen Belag. Die Mutter, die noch sieben weitere halbverhungerte, schmutzige Bälger hatte, zuckte nur mit den Schultern.
Einmal hatte Sophia das Mädchen am Wassergraben gewaschen. Wo die dicksten Schmutzschichten waren, rieb sie es zuerst mit Fett ein, in der Hoffnung, den Dreck dadurch zu lösen. Anschließend tauchte sie das Kind ins Wasser. Die Haare wusch sie mit einer Chlorlösung, von der sie ein Fläschchen mitgenommen hatte, um die Läuse abzutöten. Obwohl diese Wäschedem Kind wehtun musste, gab es keinen Laut von sich. Sauber wurde es nicht. Man hätte glauben können, der Schmutz wäre in die Haut eingebrannt.
»Nein«, sagte Sophia laut. »Das ist kein Ort für Kinder. Ich will, dass unsere Kinder in die Schule gehen. In eine gute Privatschule. An den Armenschulen werden die Kinder geschlagen.«
»Reg dich nicht auf«, sagte Ide und zog sie mit sich ins Gras hinunter.
»Ich rege mich nicht auf«,
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