Gleitflug
Möwen am Strand erschraken so, dass sie in Massen aufflogen.
»Eine Frau im Leseclub hatte auch Krebs, aber sie hat ihn besiegt.«
Wahnsinn!
Das Jagdflugzeug verschwand in dem Schwarm. Möwen durchschlugen die Kanzel, der Nazi stürzte ab.
Das war die Lösung! Er konnte die Gänse mit einem Schirm von der Piste verjagen, wie der Vater von Indiana Jones. Aber in die richtige Richtung, sie mussten zu ihm hin, nicht auf das Flugzeug zu.
Er sprang auf. Der Plan für die Geniale Rettungsaktion 3032 musste korrigiert werden.
»Bringst du schnell die Marmelade hin?«, fragte Onkel Fred und schob mit einem violetten Finger die Lesebrille wieder hoch.
»Wie meinst du?«
»Zu Liedje. Die Gläser stehen in der Küche, mit einer Karte.«
»Dazu hab ich echt keine Lust«, sagte Gieles. »Vielleicht ist doch jemand zu Hause …«
»Ich habe eben erst angerufen, sie sind nicht da. Bitte, Gieles. Für mich ist das so ein Umstand.«
Indiana Jones blickte seinen Vater bewundernd an. Der alte Mann hatte beiden das Leben gerettet. Mit einem lächerlichen Regenschirm.
»Ja, gut«, sagte er widerwillig. »Ich bringe sie hin.«
Wir sind da, wenn Ihr uns braucht , stand auf der Karte bei der Marmelade. Wir wünschen Euch viel Mut und Kraft. Willem, Gieles, Fred und Ellen .
Er fand es merkwürdig, dass ihr Name dabei stand. Seine Mutter war nicht da, wenn man sie brauchte.
Er musste die Marmelade jetzt gleich abgeben, damit er auf keinen Fall Liedje begegnete. Anschließend würde er die Gänse mit einem Schirm trainieren. Die Vuvuzela konnte er vergessen. Sie beachteten den Krach gar nicht.
Das Haus wirkte verlassen, obwohl die Hintertür offen stand. Er stellte die Marmelade auf den Küchentisch. In dem mintgrünen Korb lag Lady, die Hündin. Gieles kannte kein anderes Tier, das so träge war.
Plötzlich hörte er ein lautes Geräusch im Wohnzimmer. Gieles wusste sofort, was es war. Die Tür der Vitrine, die zugeschoben wurde.
»Es ist ja nicht so, dass ich jetzt durchdrehe«, sagte Toons Mutter. Natürlich telefonierte und putzte sie wieder, das waren ihre Lieblingsbeschäftigungen.
»Aber weißt du, was ich am schlimmsten finde? Abends zieh ich mich immer bei Licht und offenen Vorhängen aus, und dann stell ich mir vor, dass ein Pilot mich so sieht. Das könnte ja sein, sie fliegen doch praktisch durch unser Schlafzimmerfenster. O Mädel, das macht mich so heiß … Und das geht nun bald nicht mehr … Nee, nee. Nee, ich stell mich doch nicht mit einer Brust ans Fenster. Kommt nicht in Frage. Das kommt wirklich nicht in Frage.«
I DE & SOPHIA
Dritter Teil
Sophia legte Karotten, Hülsenfrüchte und Kartoffeln auf die Bretter des Marktstandes. Sie bürstete den Sand ab und wartete auf die ersten Kunden. Acht Uhr am Morgen, und sie war schon müde. In letzter Zeit war sie ständig müde.
Eine Frau mit Flechtkorb verweilte kurz am Heringsstand und kam dann auf sie zu. Lächelnd untersuchte sie die Kartoffeln auf faulige Stellen. Unter der breiten Hutkrempe sah Sophia ein makelloses, heiteres Gesicht.
»Schöne Kartoffeln«, sagte die Frau.
»Danke.«
»Geben Sie mir acht Pfund.«
Sophia nahm die Kartoffeln einzeln und legte sie in die Waagschale.
»Und vier Pfund Karotten.«
Sophia bewunderte die Edelkorallenkette der Kundin. Schöne Dinge waren rar in ihrem Leben. Beim Aushändigen des Wechselgeldes sah sie schlanke Finger mit glänzenden Nägeln. Sie schämte sich für ihre Hände voller Furchen und Schwielen. Ihre Nägel brachen schneller ab, als sie nachwuchsen. Der einzige Vorteil war, dass sie dann leichter zu reinigen waren.
»Was für eine wunderschöne Halskette Sie tragen.« Die Bemerkung war ihr einfach herausgerutscht. Sie konnte sich von dem Anblick nicht losreißen. Die Frau dankte ihr für das Kompliment. Sophia sah ihre perfekten Zähne. Gleichmäßig und weiß. Als die Dame ihren Weg über den Markt fortsetzte, befühlte Sophia mit der Zunge die Lücke, die ihre beiden oberen Schneidezähne hinterlassen hatten. Unwillkürlich bedecktesie ihren Mund mit der Hand. Wie um sich gegen die Faust zu schützen, die ihr die Zähne ausgeschlagen hatte. Sie dachte an den halbtoten Belgier mit dem zertrümmerten, hängenden Unterkiefer. An die betrunkenen Deicharbeiter, die erbarmungslos auf ihn eintraten und sich dann sie selbst und Ide vornahmen. Das Abscheulichste waren die Hautreste unter ihren Nägeln gewesen, von dem Kerl, den sie zerkratzt hatte. Sie stanken nach Mäusekadavern. Es lag nun siebzehn
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