Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
Vom Netzwerk:
Jahre zurück, aber dieser Geruch wollte nicht verschwinden.
    Sie schluckte aufsteigende Übelkeit hinunter und zog die Schultern gerade. Die Sonne schien, sie schloss die Augen.
    Am Ende des Tages holte Ide Warrens sie ab. Sein weißblondes Haar war grau und dünn geworden, trotzdem war er mit seinen sechseinhalb Fuß Länge immer noch eine auffallende Erscheinung. Er zwinkerte Sophia zu und stellte die leeren Kisten auf den Wagen. Zuletzt hob er die schweren Bretter hinauf. Bei dieser Anstrengung erschienen Tausende winziger Fältchen in seinem Gesicht.
    Schweigend fuhren sie zum trockengelegten See zurück. Zum neuen Land. Sophia hatte den Kopf an Ides Schulter gelegt und schlief ein. Er hielt sie mit dem rechten Arm fest, damit sie nicht nach vorn kippte. Mit der Linken führte er den Zügel. Hin und wieder schlug er nach einer Bremse. Er summte vor sich hin, als sie das neue Land erreichten. Noch war es eine weglose Wildnis. Schilf, Astern und Wegwarte bedeckten den Boden, Weidengesträuch erschwerte das Durchkommen. Ide ließ das Pferd in langsamem Schritt gehen. Er hatte ihm Brettchen unter die Hufe gebunden, damit es auf dem sumpfigen Boden nicht einsank.
    Vor fünf Jahren war der See endlich leergepumpt gewesen. Ide war damals zu erschöpft, um sich darüber freuen zu können. An die vierzig Meilen Ringkanal hatte er in all den Jahren gegraben. Vierzig tödliche Meilen. Denn mindestens ebensoviele Deicharbeiter, Frauen und Kinder hatte er an Malaria, Typhus, Cholera, Pocken oder Erschöpfung sterben sehen. Die Cholera war das Widerlichste. Einmal war während der Arbeit ein bis dahin völlig gesund wirkender Mann neben ihm zusammengebrochen. Es lief aus ihm heraus wie Milch aus einem vollen Euter. Durchfall und Erbrochenes. Weniger als vier Stunden dauerte die Auflösung, dann war wieder ein Leben vorbei.
    Die Trockenlegung war wie eine Schlacht gewesen. Der See hatte wütend gegen sein Schicksal angekämpft, und er hatte Ide am Ende nichts gegeben. Nicht die erträumten Silbermünzen und Kisten voller Juwelen. Das Einzige, was ihm die endlose Plackerei eingebracht hatte, waren ein verschlissener Körper, ein schweres Gemüt und eine beschädigte Tonpfeife, die nichts wert war. Er hatte sie beim Graben gefunden.
    »Ho, ruhig«, sagte er zu der Stute. »Ruhig.«
    Enten, die aus den Sträuchern aufflogen, hatten sie erschreckt. Das Holpern des Wagens weckte Sophia.
    Als der See leergepumpt war, waren sie über den Ringdeich gegangen, an den unheimlichen Dampfpumpwerken vorbei. Sie waren fröhlichen Menschen begegnet, die das neue Land bewunderten. Aber für sie selbst war es ein Trauerzug gewesen. Bei jedem Schritt dachten sie an diejenigen, die sie notdürftig im Deich begraben hatten.
    Vor ihnen lag jetzt das Land ihres Brotgebers, und Ides Stimmung hellte sich ein wenig auf. Endlich ging es aufwärts in ihrem Leben. Nicht geradewegs, eher auf gewundenen Pfaden, so krumm wie die Weidenäste, aber in die richtige Richtung. Sie wohnten zwar immer noch in einer Hütte, brauchten sie aber wenigstens mit niemandem zu teilen. Auch der Bauer bewohnte eine Hütte, weil der Boden noch zu sumpfig war, um darauf zu bauen.
    »Sind wir da?«, fragte Sophia gähnend. Eine Stunde hatte sie geschlafen. Sie reckte sich und legte den Arm um Ide. »Du stinkst«, sagte sie. »Dein Hemd stinkt.«
    »Ich stinke nicht.«
    »Sind wir schon da? Ich habe Hunger.«
    »Fast.«
    Es war ihr ein Rätsel, wie Ide den Weg fand. Für sie war das neue Land eine geheimnisvolle fremde Welt. Nur auf dem Grund und Boden ihres Bauern fand sie sich zurecht. Besessen rodete sie Schilf und Weiden, aber kaum hatte sie sich umgedreht, schossen die Pflanzen wieder aus dem Boden wie Stoppeln in einem Männergesicht.
    Langsam näherten sie sich den drei Hütten, die auf einem erhöhten Stück Land standen. Die des Bauern war die größte, mit den beiden kleineren rechts und links hatte das ganze Gehöft eine Art Hufeisenform.
    Da war ihr großer Gemüsegarten, ihr ganzer Stolz. Karotten, Bohnen, Zwiebeln, Kartoffeln, Erbsen, Rüben und Kohl wuchsen hier reichlich. Auch Apfelbäume hatte sie gepflanzt, die hoffentlich bald Früchte tragen würden.
    Der Bauer stand in einer der kleineren Hütten, die als Scheune und Kuhstall diente, sie konnte seinen Rücken sehen. Er schaufelte Mist in die Schubkarre. Ein kleiner Mann, höchstens einen Kopf größer als sie selbst. Seit dem Tod seiner Frau und seiner beiden Töchter war er um mehrere Zoll geschrumpft. Sie

Weitere Kostenlose Bücher