Gleitflug
waren vor einem halben Jahr an den Pocken gestorben. Seitdem schien er keine Freude, keine Hoffnungen mehr zu kennen. Auch Manieren waren ihm völlig einerlei. Meistens aß er im Stehen am Herd, mit der Gabel direkt aus dem Topf. Sein Herz hielt ihn am Leben, aber eigentlich hatte er wohl genug von allem.
»Die Einnahmen. Ihre Einnahmen«, sagte Sophia zu dem kurzen Rücken.
Der Bauer drehte sich um.
Sie reichte ihm einen Stoffbeutel, den er achtlos in die Hosentasche schob, ohne das Geld nachzuzählen. Wie immer hatte sie etwas zurückbehalten. Sie fühlte sich nicht schuldig, schon lange nicht mehr, und errötete niemals, wenn sie ihm den Beutel aushändigte. Auch dass sie dankbar dafür war, einen Witwer als Brotgeber zu haben, bereitete ihr keine Gewissensbisse. Frauen hätten ständig an ihr herumgemeckert, sie mit den unangenehmsten Arbeiten auf Trab gehalten und sie immer spüren lassen, dass sie ein Niemand war. So waren Frauen nun einmal.
»Sag Ide, dass wir morgen auf der letzten Parzelle anfangen.«
Selbst seine Stimme klang wie verdorrt. Was er sagte, war kaum hörbar, ein schwaches Piepsen. Sophia musste sich Mühe geben, ihn zu verstehen. Sie nickte und ging zu ihrer eigenen Hütte. Ihre Beine waren schwer, sie gähnte und kroch ins Bett.
»Wir müssen essen«, sagte Ide. Er saß auf einem Stuhl am Fenster. »Hattest du nicht Hunger?«
»Es ist noch Suppe und Brot da«, murmelte sie.
Das Fenster bestärkte Ide Warrens in seiner Überzeugung, dass er trotz allem Glück hatte. Immerhin war er hier drin zu sehen. Jedermann konnte von draußen einen Blick durchs Fenster werfen und Leben sehen. Ein einfaches Leben zwar, aber das Tageslicht machte es sichtbar. Sie wurden nicht mehr wie Ungeziefer in ein dunkles Loch gesperrt. Für den Bauern war er höchstens der Knecht, aber er fühlte sich als Siedler. Als Pionier.
Zufrieden blickte er über das endlose Land. Lehmboden. Mit seinen eigenen Händen würde er aus diesem Lehm ein Leben für sie beide formen, ein Leben, das etwas wert war. Nur eine Rauchfahne etliche Meilen entfernt verriet die Anwesenheit anderer Menschen. Abgesehen von Sophias Schnarchen herrschte tiefe Stille. Kein Hundegebell, kein Kindergeschrei, kein Lallen von betrunkenen Männern. Neben dem Fenster hing eine seinerLandschaften. Eine Landschaft, die er nach seinen Tagträumen gezeichnet hatte. Ihr Hof, der Hof von Ide und Sophia Warrens, bildete den Mittelpunkt, um ihn herum hatte Ide Äcker und ausgedehnte Weiden für die Kühe geschaffen, umsäumt von Obstbäumen. Man sah und spürte die Fruchtbarkeit des Landes, wenn man auf das Papier schaute, Ide konnte die reifen Früchte beinahe riechen. Gleichzeitig war seine Landschaft der Inbegriff von Ordnung und Regelmäßigkeit. Nirgendwo gab er der Natur die Gelegenheit, aus den vorgeschriebenen Bahnen auszubrechen. Wildnis war ihm ein Gräuel. Mit seinem Bleistift zwang er alle Bäume und Kühe, in dieselbe Richtung zu blicken.
Der Morgen begann vielversprechend. Eine bläuliche Nebeldecke kündigte die Sonne an. Ide schaufelte Mist, molk die Kühe und belud den Wagen. Sophia sammelte Eier ein, fütterte die Hühner und arbeitete im Gemüsegarten. Um halb sieben brachen sie auf. Sophia, die sich träge an Ide gelehnt hatte, beugte sich plötzlich über den Rand des Bocks und erbrach in einem einzigen Schwall ihr Frühstück.
»Was hast du denn?«, fragte Ide erschrocken und klopfte ihr auf den Rücken.
»Ich weiß nicht«, stöhnte sie.
Fassungslos blickte er sie an. Seine starke Sophia, die nie krank oder auch nur schwach war, die immer für zwei arbeitete. Cholera, dachte er, sprach aber seine Befürchtung nicht aus. Seine Blicke suchten das Land ab, als könne sich irgendwo in der Wildnis ein Krankheitsherd verbergen. Während der ganzen Fahrt lauerte er auf Anzeichen der Cholera bei Sophia. Aber ihre Muskeln und ihr Magen krampften sich nicht mehr zusammen. Sie lief nicht aus, sie wurde nicht blau. Sie hatte die Augen geschlossen und schlief mit offenem Mund, ihre Unterlippe war feucht von Speichel.
Sie kamen an den Überresten einer Tjalk vorüber. Das Wrack wurde mit jeder Woche magerer. Holz war knapp.
Nach einer halben Stunde erreichten sie die bewohnte Welt. Hier gab es Straßen, Backsteinhäuser, Kirchen, Schulen. Ide entfernte die Brettchen von den Hufen des Pferdes. In der bewohnten Welt konnte sein Pferd nicht in saugendem Schlamm versinken. Sophia wachte erst auf, als sie auf den kleinen Marktplatz fuhren. Ide
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