Gleitflug
lud ab, und sie breitete widerwillig ihre Waren aus. So hatte er sie noch nie erlebt. Ihre mühsamen Bewegungen, als ob sie jederzeit zusammenbrechen könne. Fieberhaft ging er alle Krankheiten durch, die in Frage kamen. Er wusste nicht, was sie hatte. Er wusste nur, dass der Tod sehr schnell kommen konnte.
»Schaffst du’s?«, fragte er.
»Sicher.«
Er ließ Sophia an ihrem Stand zurück. Der Bauer wartete auf ihn. Geschickt lenkte er den Wagen von dem kleinen Platz. Konnte es Typhus sein? Nicht grübeln, sagte er sich und zählte die Schwalben. Es waren fünf. Dann heftete er den Blick auf die muskulösen Flanken der Stute, die feuchten Streifen im Fell. Mit ihrem dunkelbraunen Schweif schlug sie die Bremsen weg. Auch Ide schwitzte. Schon die Morgensonne wärmte.
Malaria oder Schwindsucht? Nicht grübeln. Am Rand des früheren Sees brannten ein paar Hütten. Wenn Deicharbeiter sich weigerten, ihre Siedlungen abzubrechen, legte die Marechaussee Feuer. Oder sie prügelte die Leute fort. Er kannte die Geschichte von den zwei Brüdern, die mit ihrer alten Mutter eine Hütte auf dem Land eines Bauern bewohnten. Die Brüder hatten geholfen, das Land des Bauern trockenzulegen und einen Hof für ihn, seine Frau und die sieben Kinder zu bauen. Sie hatten um den Hof herum Ulmen gepflanzt, die eines Tages das Dach vor dem Wind schützen sollten. Sie bauten Ställe für die sechs Zugpferde und die achtzig Kühe. Als alles fertig war,brauchte der Bauer die Brüder nicht mehr. Ihre armselige Hütte verschandelte ihm die Aussicht. Er trommelte ein paar Männer zusammen, um die Hütte niederreißen zu lassen. Plötzlich erschien die alte Mutter in der Tür. Angeblich hätte man sie fast übersehen, weil sie so grau und morsch wie das Holz war. Sie klammerte sich ängstlich an ein Brett, doch die Männer stießen und traten sie johlend aus der Hütte. Die Greisin fiel mit dem Kopf auf einen Stein und wurde ohnmächtig. Als gegen Abend ihre beiden Söhne zurückkamen, fanden sie die Überreste ihrer Behausung als wüsten Trümmerhaufen vor, darauf ihre tote Mutter.
»Verflucht noch mal«, sagte Ide und wandte den Blick ab, um die wie Fackeln brennenden Hütten nicht zu sehen. Aber das Wegschauen half nicht. Schon vor Jahren hatte ihn die Angst befallen, hatte sich in seinem Kopf festgebissen wie eine Zecke. Gab es vielleicht doch einen Gott? Und wollte dieser Gott ihn vielleicht dafür bestrafen, dass er Land geschaffen hatte? War Gott zornig, weil Ide und Tausende anderer Deicharbeiter getan hatten, was nur ihm zukam? Schlug er deshalb Sophia mit irgendeiner schrecklichen Krankheit? Ide war unsicher geworden.
»Ide Warrens«, sagte er, weil die Furcht ihn packte. Er wollte seinen Namen hören. »Ide Warrens! Ide Warrens!«, brüllte er dem Land und dem Himmel zu.
Der Bauer wartete schon mit dem Pflug und der anderen Stute. Neben ihm saß ein Hund, den Ide noch nie gesehen hatte.
»Du schwitzt wie ein Schwein«, piepste der Bauer.
Ide wischte sich mit dem Ärmel die Tränen von den Wangen und riss sich zusammen.
»Woher kommt der Hund?«
Der Bauer zuckte mit den Schultern. »Er saß heute Morgen vor der Tür.«
Ide konnte sich nicht an diese Kleinkinderstimme gewöhnen.
Sie betrachteten den Hund, als würde er auf dem Viehmarkt zum Kauf angeboten. Unter dem fahlen Fell zeichneten sich die Rippen ab, die Nase und die Augen waren trocken und glanzlos.
»Wenn er steht, sieht er noch nach was aus«, sagte der Bauer und gab ihm einen Tritt. Der Hund erhob sich sofort.
»Stimmt«, bestätigte Ide. »Ein Kalb. Behalten Sie ihn? Ich meine, so ein Hund kann ganz nützlich sein, bei all dem Gesindel, das über den Polder streunt.«
Wieder zuckte der Bauer gleichgültig mit den Schultern. »Ich weiß nicht. Das Biest muss ja auch fressen.«
Er ging vor, das Pferd führte er am Zaum. In der anderen Hand hielt er eine Karte, auf der die Parzellierung eingezeichnet war. Ide zog den Pflug hinter sich her. Als er sich einmal umdrehte, sah er, wie der Hund nach einer schattigen Stelle zum Ausruhen suchte.
Die Brettchen unter den Hufen der Stute klapperten. Neben ihren langen muskulösen Beinen wirkte der Bauer noch mickriger. Sie gingen über gepflügtes, schwarzes Land. Obwohl schon seit Wochen die Sonne schien, blieb die Erde feucht. Darüber tanzten Schwärme von Mücken. Ide fragte sich, ob hier jemals Getreide würde wachsen können.
Am Rand des umgepflügten Gebiets blieb der Bauer stehen und studierte die Karte. Eine Ader
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