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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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an«, behauptete Sophia. Selbst die bettelnden Kinder, denen sie früher Brei und ein Stück Brot gegeben hatte, waren ihr nicht mehr willkommen. Wenn sich eine abgerissene Gestalt dem Hof näherte, rief sie den kalbsgroßen Hund, und wer den nicht beachtete, wurde in die Beine gebissen.
    Sophia war glücklich. »Das Einzige, was nicht so bleiben kann«, sagte sie an einem herbstlichen Abend, »ist diese Hütte. Ich habe mir geschworen, dass mein Kind nicht in einem Stall aufwachsen wird.«
    »Aber wir haben doch ein Fenster und einen Herd«, sagte Ide. Er schob sich ein Stück Kartoffel in den Mund.
    »Es ist und bleibt ein lausiger Verschlag. Ich möchte ein Haus aus Stein«, sagte sie streng und legte die Hände auf den Bauch. Er hatte einen beträchtlichen Umfang.
    »Ein Haus aus Stein?«, fragte Ide mit vollem Mund. »Nicht mal der Bauer hat eins. Weißt du, was so was kostet?«
    »Ich habe etwas gespart. Es ist in meinem Koffer oben auf dem Schrank. Sieh mal nach.«
    »Was?« Ide war verblüfft. »Wovon denn gespart?«
    »Nun sieh schon nach«, sagte sie und trommelte mit den Fingern ungeduldig auf ihren Bauch. Ide stand auf und hob den erstaunlich schweren Koffer vom Schrank. Staub wirbelte ihm auf den Kopf. Er legte den Koffer auf den Tisch und öffnete ihn. Doch das Einzige, was er sah, waren eine alte Stoffpuppe und die weiße Pfeife, die er ausgegraben hatte.
    »Er hat einen doppelten Boden, du musst den Karton herausnehmen«, erklärte Sophia.
    Ide schob an einer eingeknickten Ecke den Finger unter den Karton und zog ihn hoch. »Ach … du … heiliger Strohsack«, stammelte er und starrte auf die Gulden und Taler. »Ach du heiliger Strohsack. Noch nie hab ich so viel Geld auf einmal gesehen.«
    »Das sind eintausenddreiunddreißig Gulden.« Es klang stolz.
    Glückselig ließ Ide die Münzen durch seine Finger gleiten. »Aber wie hast du nur so viel sparen können? Das ist doch gar nicht möglich. Hast du es gestohlen?«, fragte er halb erschrocken und halb bewundernd.
    »Aber nein. Von meinem kleinen Handel während der Deicharbeiten gespart. Und manchmal halte ich von den Einnahmen auf dem Markt etwas zurück, aber das bisschen kann der Bauer gut verschmerzen. Er hat deshalb nicht eine Scheibe Brot weniger zu essen.«
    Sie erhob sich mühsam von ihrem Stuhl und trat neben Ide. Er fasste sie um die Schulter und knetete ihren Oberarm.
    »Wir können nicht gut ein Steinhaus bauen, wenn der Bauer in einer Hütte wohnt«, sagte er.
    »Dann bauen wir erst ein Haus und eine feste Scheune für ihn, und dann kommt unser Häuschen an die Reihe.«
    »Ja, aber …«, er konnte sich nicht vom Anblick des Geldes losreißen, »dann werden tausenddreiunddreißig Gulden vielleicht nicht reichen. Ich kenne mich da nicht aus, aber so ein großes Haus aus Stein zu bauen könnte gut und gern zweitausend kosten.«
    »Darüber habe ich mir auch schon den Kopf zerbrochen.« Sophia umklammerte ihren Bauch. Ide überlegte wieder einmal besorgt, ob das Kind nicht längst hätte kommen müssen. Sie war so dick wie ein Walross.
    »Etwa fünf Meilen von hier sind die Reste eines alten Friedhofs und eine Kirche. Dort soll reichlich Schmuck in den Gräbern liegen.«
    »Wer sagt das?«
    »Die Männer auf dem Markt. Sie reden ständig davon. Und dieser Schmuck ist vielleicht unsere Rettung.«
    Eine Woche später machte sich Ide Warrens auf den Weg. Es war früher Abend, kurz vor halb sieben. Während er über das nasse Land marschierte, dachte er, dass er als armer Knecht aufgebrochen war und in wenigen Stunden als reicher Mann heimkehren würde. Er fragte sich nicht, ob er darauf wirklich hoffen durfte; ihm stand der Sinn nicht nach Zweifeln. Er wollte nur träumen. Das hatte er lange nicht mehr getan.
    Sein Ziel war der Kirchturm im Nordosten, ein verschwommener Umriss. Die Kirche war das Einzige, was von dem versunkenen Dorf stehen geblieben war. Schon vor langer Zeit hatte der landfressende See die Häuser und ihre Bewohner verschlungen. Nur die Kirche hatte standgehalten. Er prägte sich den Weg gut ein; den Rückweg würde er im Dunkeln beim Licht seiner Öllampe zurücklegen müssen.
    Zwei Stunden später erreichte er die Ruinen des Dorfes. Reste von Häusern und Scheunen waren zu erkennen, die Vorderfront des Dorfgasthofs stand noch. Die Kirche sah sogar fast unversehrt aus, nur die Fenster fehlten.
    Der Friedhof war von Grabräubern schon gründlich umgewühlt worden. Ide schauderte. Es dämmerte; er entzündete seine Öllampe

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