Gleitflug

Windenergie.«
    Toon senior begann nun übertrieben vornehm zu sprechen. »Eine weitere MÖGLICHKEIT umweltfreundlicher Energiegewinnung ist Wärmespeicherung auf der Start- und Landebahn. Ein LATENTWÄRMESPEICHERMEDIUM speichert die Wärme des Asphalts, die zur Beheizung von Gebäuden … und so weiter, blabla.«
    »Dieses Gelaber«, sagte Liedje. »Die Briefe von den Flughafen-Arschlöchern sind immer so, dass ich kein Wort verstehe. Und jetzt essen wir. Toon kann mich mal.«
    »Das ist ja gerade der Sinn der Sache«, sagte Toon senior und reichte Gieles eine Zeichnung, die zu dem Brief gehörte. »Mit solchem Geschreibsel wollen sie sagen: Wir sind schlau, ihr seit doof, und so soll es bleiben. Punkt.«
    Gieles betrachtete die Zeichnung. Eine Computergraphik. Er sah die Startbahn und daneben, wo jetzt noch Häuser standen, Dutzende von Dreiecken auf flachen Hügeln. Das waren wohl die Pyramiden. Rot, grün, blau und gelb, Legofarben. Lange Reihen von Treibhäusern und unidentifizierbare, niedrige oder halb eingegrabene Gebäude. Alles sah so seltsam aus, dass er die Zeichnung genauso gut auf den Kopf stellen konnte. Seine vertraute Umgebung, seine Heimat, in eine Science-Fiction-Landschaft verwandelt. Er kam sich vor wie Ide Warrens, der aus der Karte mit den »Sektionen« nicht schlau wurde.
    »Vorige Woche auf dem Flughafen. Ich geh mit drei Koffern zum Check-in-Schalter«, sagte Toon senior, und seine Augen funkelten.
    Gieles schaute ihn erstaunt an.
    »Ich sag zu dem Mädel: ›Dieser Koffer muss nach Mailand, dieser nach Prag und der nach Berlin.‹«
    Aha. Toon senior erzählte einen seiner flachen Witze, über die außer ihm selbst niemand lachen konnte.
    »›Aber das geht nicht!‹, ruft das Mädel. ›Doch‹, sag ich. ›Beim letzten Mal sind meine Koffer auch da gelandet!‹«
    Liedje seufzte müde, gleich danach hörten sie das frisierte Moped.
    »Da ist ja unser Toontje!«, rief Toon senior fröhlich und rieb sich die Hände.
    Nach dem Essen fuhr Gieles gleich nach Hause. Der kahlköpfige Toon hatte den Mund nicht aufgemacht, und als seine Mutter anfing, den Tisch abzuräumen, verzog er sich nach oben, um zu daddeln. Gieles sagte, er müsse noch Hausaufgaben erledigen. Wichtiger war, dass seine Mutter ihn anrufen wollte. Wenn sie in dem Sandkasten da unten Empfang hatte.
    Die kleine Gans saß vor der Haustür. Sie wippte ein paarmal auf ihren Beinen wie ein Aufziehspielzeug und begrüßte ihn mit zwei Quäklauten.
    »Hallo, Kleines«, flüsterte er und versteckte sie unter seinem Sweatshirt. Er musste ihr einen Namen geben.
    Onkel Fred und sein Vater sahen fern. Gieles streckte kurz den Kopf zur Tür hinein. »Ich bin wieder da!«, rief er und rannte die Treppe hinauf. Dann wartete er auf den Anruf seiner Mutter. Er schaltete den PC ein, um an seinem Aufsatz weiterzuarbeiten. Als Erstes las er noch einmal einen Abschnitt aus Super Walings Geschichte: Als der See leergepumpt war, waren sie über den Ringdeich gegangen, an den unheimlichen Dampfpumpwerken vorbei. Sie waren fröhlichen Menschen begegnet, die das neue Land bewunderten. Aber für sie selbst war es ein Trauerzug gewesen. Bei jedem Schritt dachten sie an diejenigen, die sie notdürftig im Deich begraben hatten .
    Gieles kopierte den Abschnitt und fügte ihn in seinen Text ein. Er hoffte, bald auch den vierten Teil zu bekommen.
    Während er auf den Anruf wartete, dachte er über seinen Rettungsplan nach. Wie brachte er die Gänse zur Piste? Spekulatius hinkippen und wegrennen kam nicht in Frage, weil die Kameras es sehen würden. Und er konnte die Kekse ja schlecht mit der Schleuder hinschießen.
    Er wartete und übte ein bisschen mit der kleinen Gans. Der Aufschlag klappte schon ganz gut. Sie musste intelligenter sein als die Zwerggänse von Christian Moullec. Es wurde höchste Zeit, dass er den Brief abschickte. Er brauchte Antworten auf seine Fragen.
    Auf einmal hatte er Lust auf laute Musik, was nicht oft vorkam. Bald dröhnten E-Gitarren durch sein Zimmer. Er spielte auf imaginären Saiten mit und tanzte ein bisschen. Das tat er sonst nie, schon gar nicht auf Schulfeten.
    Jetzt überschrie der Sänger die Gitarren und das Schlagzeug. Seine Stimme war rau und heiser, das klang total abgefahren, fand Gieles. Er tanzte immer wilder, warf den Kopf vor und zurück und spielte dabei Luftgitarre. Nananana naahaa! Vom Headbanging wurde er leicht benommen, und das war angenehm. Er dachte nicht mehr an Liedjes Drainagebeutel oder an