Gleitflug
da war sich Sophia sicher.
Und so war es. Eine Stunde später lächelte er so breit, dass sie befürchtete, seine Mundwinkel könnten reißen. Es war sehr lange her, dass er so gelächelt hatte. Als sie zum ersten Mal seine Hand nahm und ihn hinter den Schuppen des Arzthauses führte. Ihre Eltern waren nicht da, und Ide konnte es nicht fassen, dass sie sich von ihm küssen ließ. Eigentlich war es umgekehrt gewesen: Sie hatte sich auf die Zehenspitzen gestellt, ihm ihre gespitzten Lippen entgegengestreckt und ungeduldig seinen Kuss erwartet.
Am nächsten Morgen auf dem Hof, als der Bauer sie anwies, das Fleisch zu pökeln, erzählte sie auch ihm von ihrer Schwangerschaft. Ide hatte damit warten wollen, er hatte gesagt, man könne nie wissen, ob ein Herr eine schwangere Magd behalten würde, aber nun war es zu spät. Sie war damit herausgeplatzt. Der Bauer zog die Brauen hoch, piepste: »Oh, soso«, und schenkte ihr das Pferdeherz, das als Delikatesse galt. Sophia schloss aus seiner großzügigen Geste, dass sie sich um ihre Anstellung keine Sorgen zu machen brauchten.
Die folgenden Monate waren hell und heiter. Ide war der Überzeugung, dass nun das Schlimmste überstanden sei. Gegen die täglichen Mühen und Heimsuchungen war er unempfindlich. Einstürzende Ufer von Wassergräben, sumpfige Äcker, Getreide, das nicht wachsen wollte, nichts konnte ihm die gute Laune verderben.
Sogar der Bauer war auf seine eigene, seltsame Weise fröhlich. Seine Stimme klang weniger schwach und hoch, und er schien mehrere Zoll zu wachsen.
Wenn Sophia Kisten schleppte, rief er ihr zu, sie dürfe nicht zu schwer heben. Ide befahl ihr, viel zu essen, und gab ihr die größten Fleischstücke.
Sophia aß, nahm zu und ähnelte mehr und mehr dem Mädchen, das sie einst gewesen war. Ihr rotes Haar wirkte voller, Falten verschwanden, ihre Haut wurde samtweich, sie lernte wieder herzhaft zu lachen. Erstaunt beobachteten die beiden Männer ihre wundersame Verjüngung. Sogar ihre Lust lebte machtvoll auf. Ihr dicker Bauch drückte auf Ide, wenn sie auf ihm ritt. Nach dem Höhepunkt trat das Kind noch eine halbeStunde wütend nach. »Es kann nur ein Junge werden«, sagte sie dann lachend.
Auch ihr Lesehunger kehrte zurück. Die schöne Dame mit der Edelkorallenkette lieh ihr Bücher. Sogar Ide konnte ihr manchmal welche besorgen, außerdem Zeitschriften. Vor allem Bücher über Anatomie und einen Bericht über die Choleraepidemie in Leiden las sie sehr gründlich.
Weil es in der gottverlassenen Einöde des Polders keinen Arzt gab, beschloss Sophia, sich selbst das nötige Wissen anzueignen. Sie hatte gute Gründe. Auf dem neuen Land überlebte eines von drei Neugeborenen die ersten Wochen nicht, und ihres sollte nicht sterben. Sie wollte alle Krankheiten von ihm fernhalten. Zum Glück war sie nicht so dumm wie die Bauern, die ihren Kindern mit Wasser verlängerte Milch gaben, Wasser aus Gräben voller Kot und verwesenden Kadavern. »Dumm, dumm, dumm«, sagte sie mit erhobenem Zeigefinger.
In ihren schlimmsten Alpträumen sah sie das totgeborene Kind von Akkie vor sich. Seit sie selbst schwanger war, dachte sie wieder öfter an die Friesin aus der Hüttensiedlung. Bewusstlos vom Alkohol, hatte die Frau ein lebloses Kind zur Welt gebracht. Erst drei Stunden später kam sie wieder zu sich, und Sophia konnte ihr nur einen toten Jungen in die Arme legen. Nach dem Tod ihres Kindes trank Akkie noch mehr. Selbst der schlimmste Säufer in der Siedlung schüttelte den Kopf über die Mengen an Schnaps, die sie in sich hineinkippte. Sie wollte ihre Scham hinunterspülen. Sophia hatte sie aus den Augen verloren, sie wusste nicht, ob sie noch lebte.
Nein, ihr Junge sollte nicht sterben, nicht in Alkohol ertränkt werden. Hundert Jahre alt sollte er werden. Sie wachte über die Sauberkeit auf dem Bauernhof. Zweimal pro Woche wusch sie mit heißem Wasser den Schmutz von Ides und ihrem Körper. Täglich untersuchte sie ihren Mann auf Ungeziefer, keine Falte ließ sie aus. Selbst das schüttere Haar des Bauern wurde ihrergestrengen Prüfung unterzogen, doch weiter hinunter als bis zum Nacken wagte sie sich nicht. Mit Erlaubnis des Bauern hob Ide eine Senkgrube aus und zimmerte darüber ein Häuschen. Bisher hatten sie sich hinter den aufgeschichteten Torfballen entleert; damit war nun endlich Schluss. Ihre Hygienemaßnahmen zahlten sich aus. Als im September überall auf dem Polder die Cholera ausbrach, blieben sie verschont.
»Armut zieht Krankheit
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