Gleitflug
Weil sich das Skelett dabei verschob, entdeckte er noch eine Brosche, die er rasch mit spitzen Fingern zwischen den Rippen herauszog. Er stopfte sich die Beute in die Joppentasche und floh aus dem dunklen Loch.
Sophia wartete die ganze Nacht auf Ide. Sie stand am einzigen Fenster der Hütte und verfolgte das Schauspiel des Gewitters. Sie hatte keine Angst vor Blitzen, und sie wusste, dass auch Ide die Naturgewalt nicht fürchtete. Sicher würde er nicht so dumm sein, während des Gewitters über den topfebenen Polder zu wandern. Er würde es wohl in den Ruinen des Dorfs abwarten, oder vielleicht irgendwo unterwegs auf einem anderen Bauernhof. Und doch. Und doch. Und doch …
Stunden schlichen vorüber. Der Wind legte sich, der Sturm in ihrem Kopf wurde stärker.
Gegen Morgen war das Gewitter längst nach Osten weitergezogen. Die Sonne beschien freundlich das neue Land. Sophia war auf dem Korbstuhl am Fenster eingeschlafen und wurde von Geräuschen an der Tür geweckt. »Ide«, rief sie, aber als sie die Tür öffnete, stand dort der Bauer.
»Ist er noch nicht auf?«, fragte er ärgerlich. Hinter ihm wartete der Hund, das hässliche Tier folgte ihm überallhin.
»N… nein«, stammelte sie. »Wie viel Uhr ist es denn?«
»Halb sechs. Ich warte schon eine halbe Stunde. Schöne Bescherung.«
»Mein Gott«, sagte sie. »Gütiger Gott.« Ihr Kind trat sie. »Er ist seit gestern Abend fort.«
»Wie, fort?«
Zusammen fuhren sie auf dem sumpfigen Weg nach Nordosten. Der Bauer hatte dem Pferd sehr große Brettchen unter die Hufe gebunden. Noch ein versunkener Gaul, und er war erledigt.
Das Holpern des Wagens war eine Qual für Sophia. Sie hatte das Gefühl, dass ihr das Fruchtwasser bis in die Speiseröhre schwappte und ihre Gebärmutter jeden Augenblick bersten konnte. Sie band sich das alte Brokattuch ihrer Mutter fest um den Leib. Währenddessen suchte sie mit den Augen so sorgfältig die Umgebung ab, wie sie sonst Kopfhaar nach Läusen zu durchsuchen pflegte.
Sie stöhnte.
»Das Kind kommt doch wohl nicht jetzt? Das geht nicht …«
Zum ersten Mal seit Monaten war die Stimme des Bauern wieder ein schwaches Piepsen. »Was wollte er da überhaupt, da ist doch gar nichts?«
Sophia wusste nicht, ob sie ihm die Wahrheit sagen sollte. Sie fühlte sich plötzlich uralt.
Als sie Ide fanden, war sie längst auf alles gefasst. Er lag auf dem Bauch, stocksteif, schwarz vom Schlamm. Mit größter Mühe zogen sie ihn auf den Wagen, sie sah, dass seine Joppe auf der Brust versengt war.
»Ide Warrens«, sagte sie und schlug ihn in sein kaltes Gesicht. »O verflucht. Was tust du mir an.«
Noch am Abend brachte Sophia eine Tochter zur Welt. Der Wagen und die Weinkrämpfe hatten sie so durchgeschüttelt, dass die Wehen einsetzten. Sie kam in der Hütte nieder, während der Bauer ratlos draußen vor der Tür wartete und überlegte, von wo er eine Hebamme holen könnte.
Als Sophia so laut brüllte, dass der Hund zu heulen begann, stürmte der Bauer in die Hütte. Sophia hockte auf einer Decke, die sie auf dem Boden ausgebreitet hatte. Vor ihr stand einStuhl, sie hatte ihr Nachthemd bis über den Bauch hochgestreift und den Oberkörper auf den Sitz gelegt. Der Scheitel des Kindes war schon sichtbar, eine scheußliche blinde Ader, fand der Bauer. Wieder schrie Sophia wie ein verwundetes Tier, und als er ihr gerade zurufen wollte, sie solle sich auf den Rücken legen (seine Frau hatte ihre Töchter im Bett geboren), glitschte das Kind heraus. Es klatschte auf die Decke. Aber Sophia wusste offenbar, was sie tat. Auf der Decke lag ein ordentlicher Stapel weißer Tücher, daneben standen eine Schüssel mit Wasser und eine Schale mit Messerchen und einer Schere. Geschickt band sie mit Baumwollstreifen die Nabelschnur ab und durchtrennte sie. Dann wickelte sie das Kind fest in Tücher ein und stützte sich auf Hände und Knie. Als der Mutterkuchen aus ihrer Scheide glitt, lief der Bauer würgend hinaus. Er wusste nicht, was da zum Vorschein kam.
Am nächsten Morgen bat sie ihn, Ide zu ihr in die Hütte zu bringen, damit sie ihn waschen könne. Totenblass war sie, aber furchtlos.
Ide Warrens lag noch auf dem Wagen in der Scheune. Es würde nicht leicht sein, den Riesen auf halbwegs würdige Art in Sophias Hütte zu schaffen. Der tote Knecht war zu groß und zu schwer, als dass der Bauer ihn allein hätte tragen können, und die Magd war noch zu schwach.
Nach einigem Überlegen stiefelte er in seine Hütte und zerrte den Strohsack
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