Gleitflug
und betrat die Kirche. Im spärlichen Licht sah er zerfallene Kirchbänke und ein zerbröckeltes Steingebilde, in dem er einen Altar erkannte. Fledermäuse flatterten auf.
Ide fluchte stumm. In dieser Dunkelheit war ihm nicht wohl. Er blickte sich um und versuchte klar zu denken. Wo konnte der Eingang zum Grabgewölbe sein? Das schwache Licht warf Schatten auf den Boden; dort lagen verkohlte Holzscheite. DieKirche musste ein guter Unterschlupf für Landstreicher sein, und dieser Gedanke ließ ihn einen kühlen Kopf behalten. Trotzdem hatte er das Gefühl, eine Ewigkeit herumgeirrt zu sein, bevor er endlich den Eingang zum Keller fand. Die steinerne Verschlussplatte lag neben einer viereckigen Öffnung, in der eine Leiter stand.
Ide zögerte, dieses finstere Loch war ihm zuwider. Die Dunkelheit sah hungrig aus, als ob sie ihn lebend verschlingen wollte, und von unten stank es modrig, dort gab es bestimmt kaum Luft. Tiefer konnte er nicht sinken. Tote in einem Grabgewölbe bestehlen! Er atmete mühsam, schließlich begann er zu weinen. Die feuchten Mauern warfen sein unterdrücktes Schluchzen zurück. »Ide Warrens«, sagte er laut, um die eigene Stimme zu hören. »Mach Sophia und das Kind glücklich.« Er warf einen Stein in das gähnende Loch. Sofort hörte er ihn aufschlagen, der Keller konnte nicht tief sein.
Langsam stieg er die Leiter hinunter, aber sein Herz schlug immer schneller. Er hatte das Gefühl, kaum noch Luft zu bekommen. Schon nach der achten Sprosse stand er mit beiden Beinen auf dem Steinboden. »Nun los, Ide Warrens«, ermahnte er sich ein weiteres Mal. »Mach Sophia und das Kind glücklich.« Die Öllampe hielt er mit ausgestrecktem Arm vor sich. Sophia hatte recht: Da standen Särge. Dutzende von Särgen. Sie hatte nur nicht gewusst, dass ihm auch hier Grabräuber zuvorgekommen waren. Die Eichendeckel waren zur Seite geschoben. Mit kleinen Schritten schlich er an den Särgen entlang und versuchte angestrengt, nicht hineinzusehen.
»Alles gut«, murmelte er und spürte, wie ihm die Beine zitterten. Die Angst vor einer höheren Macht, einem Gott, sprang ihn wieder an. Konnte er ungestraft davonkommen, wenn er Tote bestahl?
»Bleib ruhig.« Seine Stimme klang fremd in dem dumpfen Gewölbe. Trotz des modrigen Geruchs holte er mehrmals tiefLuft. Er war ein Eindringling, er gehörte hier nicht hin. Daher die lähmende Furcht. Plötzlich verspürte er den Wunsch, sich diesen Keller anzueignen, als sein Revier, wie ein Bär, der mit den Krallen Baumstämme bearbeitet, um seinen Teil des Waldes abzugrenzen. Mit feuchtkalten Fingern holte er sein Geschlecht aus der Hose und pinkelte die Wände an, bis kein Tropfen mehr kam. Er war ein wenig erleichtert, wenn auch nicht beruhigt.
»An die Arbeit, Ide Warrens. Mach Sophia und das Kind glücklich.«
Weiter hinten im Keller standen noch ein paar unberührte Särge. Er trat gegen einen der Deckel, aber er bewegte sich nicht. Mit aller Kraft zerrte er daran, und ganz allmählich rutschte das schwere Stück Holz zur Seite. Plötzlich krachte der Deckel auf den Boden. Im schwachen Licht sah Ide ein Skelett. Langsam hockte er sich hin und betrachtete es voll ängstlicher Neugier. Während er sich den Schädel ansah, tastete er mit den Fingern über seine eigene Stirn. Er wunderte sich über die hohen Wangenknochen des Skeletts. Dann zählte er die Rippen und spürte, wie sich unter seiner Joppe die Haut über dem Brustkorb spannte. Nie hatte er sich von innen gesehen, und nun wurde ihm dieser Zauberspiegel vorgehalten. Er hielt die Öllampe über die Hüften und fragte sich, ob es das Skelett eines Mannes oder einer Frau war.
Von oben war ein leises Grollen zu hören, ein Gewitter war im Anzug. Er schaute sich die Finger und den Hals und den Boden des Sargs neben dem Schädel genau an, fand aber keinen Schmuck. Schnell stand er auf und wuchtete den Deckel vom nächsten Sarg. Das Skelett darin war viel kleiner, ein Arm fehlte, und von Schmuck war auch hier nichts zu sehen.
Das näherkommende Gewitter trieb ihn zur Eile. Verbissen arbeitete er sich durch die Reihe von Särgen. Beim sechsten hatte er Glück. An einem Fingerknochen saß lose ein Goldring mit einem kleinen Stein. Um den Hals des Skeletts lag eine Kette.Ide wollte sie über den Schädel ziehen, aber dafür war sie zu eng. Er stellte die Öllampe auf den Boden und versuchte, den Verschluss zu öffnen. Durch sein Zerren drehte sich der Schädel nach links; vor Schreck riss Ide die Kette durch.
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