Gleitflug
weit offen. Sie steckte die Finger in die Ohren und schnitt Grimassen, als käme das Gebrüll der Triebwerke aus ihrer Kehle.
Wo ist denn das Zungenpiercing?
Schnell machte Gieles das Fenster zu. Sie setzte sich neben den Kindersarg und trat die Armeestiefel von den Füßen. Eine ihrer Blasen blutete.
»Du blutest!«, rief Gieles erschrocken. Aus dem Flur war Onkel Freds Krücke zu hören, dann ein kurzes Klopfen an der Tür.
»Handtücher«, sagte er. »Oh, Mädel, das muss in Sodalösung. Gieles, tu schon mal heißes Wasser in eine Schüssel, dann hole ich Soda.«
Wegen Meikes Füßen vergaß Onkel Fred das Abendessen. Willem sah seinen Sohn mit einer Schüssel hin und her rennen und seinen Bruder ein Reinigungsmittel aus einem Küchenschrank nehmen. In knapp einer Stunde erwartete man ihn wegen einer dringenden Sache wieder auf dem Flughafen. Brütende Heringsmöwen hatten sich in einem Hangar verschanzt und mussten vertrieben werden.
Er ging zur Spüle und wusch den Salat. Dann schnitt er die Gurke und einige Tomaten und mengte sie in den Salat, zusammen mit einem tüchtigen Schuss Fertigsauce. Auf dem Schneidbrett lagen drei in Plastik verpackte Würste. Er schaute im Kühlschrank nach, ob noch anderes Fleisch da war. Schließlich halbierte er die Würste und briet sie ringsum braun.
Als Gieles wieder in die Küche kam, sah er zu seiner Verblüffung seinen Vater am Herd hantieren. Etwas unbeholfen, als spiele er mit einer Puppenküche.
»Ich deck den Tisch«, sagte Gieles und rannte zum Schrank. Sie legten sonst nur zu Weihnachten ein Tischtuch auf, aber heute ging es nicht ohne. Auch nicht ohne Servietten. Meike kam hereingeschlurft. Ihre Füße waren großzügig verbunden, nur die Zehen schauten heraus.
»Ja, was ist das denn«, sagte Onkel Fred überrascht. »Willem, du kochst?«
Dann sah er die grüne Tischdecke mit den Rentieren undStechpalmenzweigen. Lächelnd setzte er sich und forderte Meike mit einer Geste auf, ebenfalls Platz zu nehmen. Gieles schaute auf das Tischtuch und die Schneemann-Servietten und kam sich auf einmal albern vor.
Sein Vater gab Meike den Teller mit der größten Portion Wurst. Sie stürzte sich wie ausgehungert auf das Essen und schlang alles fast ohne zu kauen hinunter.
»Eigentlich«, sagte sie nach einer Weile, »bin ich Vegetarierin.«
»Vegetarierin«, echote Onkel Fred.
»Mmmm«, sagte sie und wischte sich den Mund mit der Schneemannserviette ab. »Schon viereinhalb Jahre oder so.«
Gleich nach dem Essen fuhr Willem zum Flughafen. Onkel Fred erinnerte Meike daran, dass sie zu Hause anrufen müsse. »Sonst bist du bald im Fernsehen zu sehen, als vermisstes Mädchen.«
Meike schaute ihn an, als wäre er verrückt geworden. Auf ihre verspätete Mitteilung, dass sie Vegetarierin sei, war eine befreiende Lachsalve gefolgt. Seitdem waren alle etwas entspannter.
»Deine armen Eltern sollen doch nicht denken, dass du verschwunden bist. Das wäre schrecklich für sie.«
»Mein Guthaben ist alle«, sagte sie.
Onkel Fred legte ihr die Hand auf die Schulter, schob sie in den Flur und reichte ihr das Telefon. »Hier kannst du ungestört sprechen.«
In den ersten Minuten hörten sie nichts, dann wurde Meike immer lauter, schließlich fing sie an zu brüllen. Weil sie Dialekt sprach, verstanden sie nicht viel, aber zur Sicherheit schloss Onkel Fred die Küchentür und schaltete das Radio ein. Nervös stellte Gieles die Teller und Töpfe neben die Spüle. Noch nie hatte er ein Mädchen so schreien hören. Auch Dolly konnte toben, aber an Meike kam sie nicht heran. Es war kaum zu fassen, dassdiese kleine Person so viele Dezibel hervorbringen konnte. Er wurde immer zappeliger.
Sein Onkel faltete die Weihnachtsdecke zusammen und sagte ruhig: »Toon hat angerufen. Ich soll dir sagen, dass er für Dolly eingekauft hat.«
»Für Dolly?«, fragte Gieles verwirrt. Er musste in seinem Gedächtnis graben, bis ihm alles wieder einfiel. Seit heute Nachmittag hatte in seinem Kopf nur noch Meike Platz gehabt. Langsam drang die Bedeutung von Toons Nachricht in sein Bewusstsein.
Toon hat eingekauft .
Er konnte nur hoffen, dass Toon den gleichen Vibrator gefunden und Dolly noch nicht ins Leere gegriffen hatte.
Die Tür des Gästezimmers knallte zu. Er fuhr sich zögernd mit den Fingern durchs Haar und legte die Hand auf die Klinke der Küchentür.
»Lass sie sich erst abkühlen«, sagte Onkel Fred väterlich.
Eine halbe Stunde später klopfte Gieles ein paarmal an, wartete
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