Gleitflug
ihren Schenkeln.
»Bin ätzend weit gelatscht.« Mit viel Mühe zog sie die Armeestiefel von den Füßen. »Den ganzen Weg vom Bahnhof hierher. Mindestens zehn Kilometer.«
Als Gieles ihre feuerroten Blasen sah, grinste er von einem Ohr zum anderen. Er hätte ihr gern von Sophia in der hohlen Linde erzählt, sagte aber nur: »Da musst du Jenever drauftun, der ist gut gegen die Blasen.«
»Ich mog keinen Jenever.« Sie inhalierte tief. »Ich mog nur Malibu.«
Es sollte cool klingen, aber wegen ihres starken Akzents war es einfach nur auf unheimlich sympathische Weise komisch.
Sie schwiegen, und Meike beobachtete fasziniert die Flugzeuge, als wäre der Flugverkehr eine Art Vorstellung.
»Ich wusste nicht, dass Flugzeuge so groß sind.«
Gieles sah ihr an, dass sie keinen Scherz machte. »Hast du noch nie eins aus der Nähe gesehen?«
»Ich bin nie geflogen. Der Papa … mein Vater hat Angst vorm Fliegen. Wenn er das hier mitkriegen würde, würd er voll ausflippen.«
Gieles sah den gelben Jeep auf den Hof fahren. Willem Slob kam früher als sonst nach Hause.
»Mein Vater«, sagte Gieles, und sie schauten ihm dabei zu, wie er ausstieg und ins Haus ging.
»Dein Vater ist ja auch so groß«, stellte sie beeindruckt fest.
Ohne nachzudenken, nahm er ihre Hand und half ihr beim Aufstehen. »Zieh besser die Schuhe wieder an. Hier liegt überall Gänsekacke.«
20
Sein Vater und sein Onkel waren in der Küche, als Gieles die Hintertür öffnete. Die kleine Gans versuchte mit hineinzuschlüpfen, aber er schob sie mit den Schienbeinen zurück.
Er wusste, dass die beiden schon über Meike sprachen. Sein Vater lehnte sich an die Spüle, eine Flasche Bier in der Hand. Mit der tiefen Furche in der Stirn ähnelte er tatsächlich Harrison Ford. Onkel Fred saß am Tisch, vor ihm lag die aufgeschlagene Zeitung.
»Das ist Meike.« Sie stand hinter ihm und rührte sich nicht. Auch sein Vater blieb, wo er war.
»Ich habe sie heute Nachmittag schon kennengelernt«, sagte Onkel Fred, als wäre es völlig normal, dass ein Mädchen mit einem Piercing und einer tätowierten Träne im Gesicht in seiner Küche stand. Für Gieles’ Gefühl verging eine Stunde, bis sein Vater sich von der Spüle löste und auf sie zukam. Er streckte die Hand aus. »Ich bin Willem Slob. Gieles’ Vater.«
Meike hob den Kopf wie jemand, der einen Wolkenkratzer betrachtet. Dann reichte sie ihm die Hand. »Meike Nooteboom«, sagte sie kaum hörbar.
»Nooteboom?«, rief Onkel Fred. »Wie Cees Nooteboom? Der Schriftsteller?«
Meike zog fragend die Augenbrauen hoch, so dass die kleine Spinne lebendig wurde.
Willem setzte sich und hörte Fred zu, der ein paar Romantitel aufzählte, in der Hoffnung, dass dieses Mädchen einen davon kannte. Er trommelte mit den Fingern auf der Tischplatte.
»Fred?«, sagte er und schaute seinen Bruder hilflos an. Siestanden vor einer schwierigen Entscheidung, und so etwas war nicht seine Stärke.
Onkel Fred nahm die Lesebrille ab. »Ich nehme an, dass du bei uns übernachten möchtest, Meike. Du hast einen Koffer bei dir.«
Meike schien sich nicht mehr an einen Koffer zu erinnern. Sie starrte Fred mit sehr großen und grünen Augen an. Gieles hatte noch nie ein Gesicht gesehen, das sich so oft veränderte. Fast wie bei einer Zeichentrickfigur.
»Und deine Eltern?«, fragte Fred wie nebenbei, erhob sich und ging mühsam zu den Schränken. »Wissen sie, wo du bist?«
»Ich glaub nicht.« Sie flüsterte und starrte unter den dick mit Mascara bestrichenen Wimpern auf sein lahmes Bein.
»In diesem Fall halte ich es für besser, wenn du zu Hause anrufst.« Onkel Fred öffnete den Kühlschrank. »Sag deinen Eltern dann bitte, dass auch wir noch kurz anrufen.«
Während er Salat und eine Gurke aus dem Gemüsefach nahm, blickte er über die Schulter zu Gieles. »Zeigst du ihr das Gästezimmer?«
Gieles schaute seinen Vater an. Er wirkte erschöpft. Gieles hoffte auf ein Zeichen, ein Augenzwinkern oder etwas dergleichen, damit er wusste, dass sein Vater nicht wütend war. Aber Willem reagierte nicht. Er trommelte nur weiter auf den Tisch.
Das Gästezimmer lag im Erdgeschoss gleich neben der Haustür. Es war klein und diente sonst als Abstellraum. Onkel Fred hatte schon fleißig aufgeräumt. Die Wintermäntel, den Staubsauger und den Bügeltisch hatte er unter dem schmalen Bett verstaut, ebenso zwei Kisten mit Büchern. Auf dem Bett lag ihr Koffer. Er hatte eine seltsame Form, wie eine Art Kindersarg.
Das Fenster stand
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