Gleitflug
vergebens auf Antwort und öffnete dann die Tür. Meike lag auf dem Bett. Eine Spur Mascara führte über ihre Schläfe zum Ohr.
»Ich hab Tee für dich.« Er stand mit dem dampfenden Becher im Zimmer und wusste nicht, was er tun sollte.
»Ich hasse sie.« Es klang nicht sehr überzeugend, ihre ganze Kraft schien verbraucht zu sein. Langsam richtete sie sich auf. Die tätowierte Träne war halb unter schwarzen Flecken versteckt. Es hätte auch ein chinesisches Schriftzeichen sein können.
Gieles stellte den Teebecher auf den kleinen Tisch neben dem Bett und setzte sich zu Meike. Sie lehnten sich an die holzverkleidete Wand. Gegenüber hingen gerahmte Fotos.
»Bist du das mit deinen Eltern, auf dem Pferd?«
Gieles nickte und betrachtete den kleinen Jungen, der vor seinem Vater auf einem großen braunen Pferd saß. Neben ihnen,auf einem Schimmel, saß seine Mutter. Im Hintergrund glitzerte das Meer.
»’Ne hübsche Mutter hast du. Meine ist ein Zwerg. Könnte glatt im Zirkus auftreten. Mein Vater auch.«
Auf dem Foto sah seine Mutter tatsächlich klasse aus. Sie trug eine Sonnenbrille, und ihr Haar hing lang herunter. Damals war es noch ganz schwarz, jetzt hatte sie überall graue Strähnen.
»Das war in Südafrika«, erklärte er. »Und das Foto von mir da drüber mit den schwarzen Kindern auf dem Boden, das ist aus Malawi.«
»Scheiße«, flüsterte sie. »Malawi.«
»Ich bin da einen Monat zur Schule gegangen«, log er. Er hatte die einheimische Schule besuchen sollen, weil seine Mutter meinte, das sei gut für seine Entwicklung. Am zweiten Tag war er weinend nach Hause gelaufen, weil er Angst vor dem Lehrer hatte, der die Schüler mit Zweigen schlug.
»Die Kinder werden da mit Stöcken geschlagen.«
Meike schaute ihn mit großen Augen an. »Echt? Du auch?«
Es freute ihn, dass sie besorgt klang. »Nein. Das haben sie nicht gewagt.«
Ihr Blick glitt über die Wand. Baby Gieles in einem Batiktragetuch auf dem Rücken seiner Mutter vor einem Obststand. Kleinkind Gieles im Urwald auf einer Brücke, eingerahmt von Lianen. Sie lachte über das Foto, auf dem er und seine Eltern in roten Gewändern posierten. Nah beieinander, er in der Mitte.
»In Kenia waren unsere Koffer verlorengegangen. Und da mussten wir die ganze Zeit in diesen Tüchern rumlaufen. Bei den Massai, das sind Nomaden.«
Auch diesmal übertrieb er schamlos, um sie zu beeindrucken. Nach drei Tagen bei den Massai hatten sie überall Zecken gehabt und waren in ein Luxushotel mit Swimmingpool geflüchtet.
»Du bist ja echt viel gereist.« Sie stützte das Kinn auf dieKnie. »Wir kommen nie weiter als bis Winterberg. Das ist so ein verschissenes Kaff in Deutschland, jeden Sommer müssen wir dahin. Und dann will meine Mutter mit der Seilbahn fahren, wegen der Aussicht, und mein Vater bleibt unten, weil er Höhenangst hat.«
»Unsere Reisen waren auch nicht immer so toll«, schwindelte Gieles. In Wirklichkeit hatte er nur die schönsten Erinnerungen. »Es gab oft eklige Sachen zu essen, und meistens hab ich dann Durchfall bekommen.«
Meike hatte die Arme fest um ihre angezogenen Knie gelegt, als wolle sie sich selbst trösten. »Meine Eltern sind solche Schlaffnasen. In Amsterdam sind sie in ihrem ganzen Leben ein Mal gewesen. Jeden Tag stehen sie mitten in der Nacht auf, zusammen mit ihren Polen. Und die Polen labern von nix anderem als Weibern und Titten und so. Auf Polnisch, aber ich bin ja nicht blöd. Weißt du, was kurva heißt?«
»Möse?«, riet Gieles.
»Nutte. Und auf Rumänisch ist das pizdâ . Zurzeit kriegen sie nur noch Rumänen.«
Gieles, Blick glitt rasch über ihr T-Shirt. In seiner Klasse würde sie in die Kategorie größere Titten gehören. Und auffallen würde sie. In der Schule sah kein Mädchen so aus wie sie.
Plötzlich stand sie auf und humpelte mit ihren verbundenen Füßen zur Wand. »Wo war das? Wo du das kleine Mädchen auf dem Schoß hast?«
»Das war in Surinam«, sagte Gieles. Er wäre lieber nicht daran erinnert worden. Es war die letzte gemeinsame Reise gewesen. Zwei Monate später hatte seine Mutter ihre Stewardessenstelle verloren und von da an als Entwicklungshelferin gearbeitet.
»In einem Kinderheim, dem meine Mutter schon mal Spielzeug geschenkt hatte.«
Sie betrachtete das Foto aus nächster Nähe und pustete den Staub weg. »Was hat sie da für ein Dreieck auf dem Gesicht?«
»Die Mutter hatte ihr ein heißes Bügeleisen auf die Backe gedrückt.«
Diesmal übertrieb er nicht.
»Mit
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