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Gleitflug

Gleitflug

Titel: Gleitflug Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne-Gine Goemans
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und fuhr widerwillig zur Schule.

21
    Nach Meikes Bericht zu urteilen, war ihr erster Vormittag auf dem Hof turbulent verlaufen. Sie saß auf der Stufe vor der Hintertür und rauchte, und sie hatte dasselbe schwarze T-Shirt wie am Vortag an. Ihre nackten Beine waren mit schwarzen Tupfen übersät. Es war Tinte. Gieles saß schwitzend neben ihr. Er war in einem Höllentempo gefahren, um möglichst schnell wieder bei ihr zu sein. Warum bearbeitete sie sich mit Tinte? Ein Mädchen in seiner Klasse ritzte sich die Haut auf und musste deshalb manchmal tagelang zu Hause bleiben, aber dies war etwas Neues. Vielleicht kündigte Ritzen mit einem Füller das Ritzen mit einem Messer an.
    Er hörte Meike zu und versuchte sich genau vorzustellen, was sie erzählte. Weil die Türen offen standen, hatten die Gänse die Küche vollgeschissen. Die aggressive Gans hatte nach Onkel Fred gehackt, worauf ihr Willem einen so harten Tritt verpasste, dass Federn durch die Küche segelten. All das hatte Meike von Onkel Fred gehört. Sie war erst wach geworden, als sich die Gans auf den Briefträger stürzte. Sie hörte Geschrei, schaute aus dem Fenster und sah, wie sich der Mann gegen die dreschenden Flügel und den hackenden Schnabel zu wehren versuchte. Erst als Fred sie mit dem Gartenschlauch nassspritzte und den Strahl auf ihren Kopf richtete, hatte die Gans aufgegeben. Der Briefträger war mit triefenden Klamotten und Fahrradtaschen geflüchtet.
    Meike kicherte und drückte ihre Kippe in einem Aschenbecher aus.
    »Und dann ist dein Onkel einkaufen gefahren.« Sie kicherte noch ein bisschen lauter. Ihre Stimme klang heiser, wahrscheinlich von dem Gebrüll am Vorabend. »Aber erst hat er mir den Aschenbecher gegeben und gesagt: ›Geraucht wird draußen, junge Frau, nicht im Haus.‹ Als ob das nicht scheißegal wär, wenn man sowieso von Flugzeugen vergast wird.«
    »Aber das hast du doch nicht zu ihm gesagt?« Gieles war nie so frech.
    »Natürlich nicht.« Sie gähnte. »Meine Fresse, dass ihr bei dem irren Krach schlafen könnt. Ich hab kein Auge zugemacht.«
    »Man gewöhnt sich an alles.«
    Meike stand auf und hinkte über den Kies. Die Verbände sahen angeschmuddelt aus. Ihre Beine erinnerten an die eines Dalmatiners. Ohne Angst näherte sie sich der aggressiven Gans, die in ein paar Metern Entfernung stand, und betrachtete das Tier wie eine besorgte Mutter ein widerspenstiges Kind. Nach ein paar Minuten kam sie zurück.
    »Ist Blau deine Lieblingsfarbe?«, fragte sie, als sie vor Gieles stand.
    »Nein, wieso?« Er schaute auf seine Jeans und sein T-Shirt.
    »Gestern hattest du auch blaue Sachen an.«
    »Und deine Lieblingsfarbe muss Schwarz sein. Sogar auf deinen Beinen ist überall Schwarz.«
    »Ach das«, sagte sie. »Wenn ich Löcher in der Strumpfhose hab, mal ich die immer schwarz aus. Ist so ’ne Art Tick.« Sie gähnte wieder und streckte sich.
    Sie hat ganz eindeutig kein Zungenpiercing.
    Gieles versuchte krampfhaft, seine Erregung zu unterdrücken; er schaute in eine andere Richtung.
    »Ich hab Hunger«, sagte sie. »Willst du auch ’ne Scheibe Brot?«
    Bevor er antworten konnte, war sie schon in der Küche. Er hörte sie Schränke öffnen und schließen, wahrscheinlich richtete sie ein Chaos an. Chaos passte zu ihr. Und er genoss es, sich von ihr Brote schmieren zu lassen.
    M orgen zieh ich das rote T-Shirt an .
    Wallie trippelte um die Ecke und legte sich zwischen seine Füße. Zum ersten Mal fielen ihm die dünnen Röhrchen an ihren Flügelenden auf, jetzt wuchsen ihr also die ersten Schwungfedern. Damit konnte sie dann fliegen. Er streichelte ihre Flügel.
    Meike brachte einen Stapel Schnitten und zwei Becher Kaffee, dazu ein Kännchen Milch und ein Schälchen Zucker: alles unerwartet ordentlich auf einem Tablett.
    Sie stellte es neben ihm auf die Stufe. »Milch und Zucker?«
    »Ja, gern«, sagte er. Er trank sonst nie Kaffee.
    Sie rührte sogar für ihn um, und als sie ihm den Becher reichte, hätte er sie gern geküsst. Ihr Gesicht war ganz nah, und erst jetzt sah er, dass sie kein Zeug auf ihre Wimpern geschmiert hatte. Am liebsten hätte er ihr gesagt, wie hübsch sie war, aber Wallies große Schwester stand direkt vor ihnen. Gieles spannte seine Muskeln an, notfalls würde er ihr den Becher an den Kopf pfeffern. Aber sie tat nichts. Meike warf ihr eine Scheibe Brot mit Erdnussbutter hin. Mit der baumelnden Schnitte im Schnabel zog sie ab.
    »Sie mag dich«, sagte Gieles.
    »Logisch. Ich liebe Tiere. Das spüren

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