Glencoe - Historischer Roman
dem Haus seines Vaters fort und verberge mich bei den Inverrigans. Deshalb siehst du mich nie in der Siedlung. Ich hab’s keinem Menschen sagen können, denn keiner würde mir glauben. Nicht von einem Sohn des MacIain. Nur dir sag ich’s. Dir vertrau ich.«
Sie lehnte den Kopf an seine Brust. Auch die Tränen kamen ihr von allein. Etwas in ihr wünschte, ihm alles sagen zu dürfen, das, was sie selbst nicht zu fassen vermochte. Sie lauschte auf sein Herz. Pumpte es in schnelleren Schlägen, kürzten sich seine Atemzüge, hatte sie ihr Ziel erreicht. Kurz blickte sie auf und sah in sein Gesicht, das unter der Röte bleich wirkte. Täuschte das Zwielicht, oder zeichnete sich tatsächlich in den gedunsenen Zügen das Entsetzen, das sie hatte entfachen wollen?
»Aber …«, hörte sie ihn murmeln und dann noch einmal: »Aber …«
Seltsam war das. Ihr Leben lang war Sandy Og ihr Bruder genannt worden, aber Ceana hatte nie einen Bruder in ihm gesehen und vergaß, dass Menschen ihn so betrachteten.
»Er ist dein Bruder«, hatte endlich auch der Mann herausgepresst, der sie in den Armen hielt. Als begriffe er erst jetzt, was er gesagt hatte, ließ er sie los und trat zurück.
Fast fühlte sie sich gestoßen. War es das, was Menschen taten, wenn etwas ihnen Grauen einflößte? Wichen sie vor dem Opfer zurück statt vor dem Verbrecher? Sie würde ihn nicht aufklären, vielleicht war das, was er sich zurechtmachte, für ihre Zwecke das Beste. Sei mein Messer. Sie sah zu Boden und sagte kein Wort.
»Ich«, stotterte Glenlyon, »ich soll ihn nicht ins Haus bringen, nein? Du willst nicht, dass ich ihn für heute Abend einlade?«
»Doch!«, rief sie hastig, denn ebendas wollte sie ja: Die halbe Nacht lang, derweil er trank und trank, sollte er seinem Feind in die Augen sehen, der sich an seiner Liebsten vergriffen hatte und seine Nichte in Schande bringen würde, wenn alles herauskam.
Als sie aufblickte, sah sie in seine Augen. Sie flackerten wie das Bläuliche in erstickenden Flammen. Er hatte etwas von einem Kind an sich, die Verstörtheit eines Kindes. Sie biss sich auf die Lippen. »Ich habe sagen wollen: Tu, was du tun musst. Ich will dir nicht im Weg stehen.«
Dann schlugen die Worte keine Brücke mehr, nur die Blicke hielten einander fest, so schwer es ihnen beiden fiel. Was lasen, was erkannten sie? Dass sie im Grunde Fremde waren, die einzig ein Handstreich aus gleichgültigem Himmel verband, der sie zusammengeführt hatte, damit einer des anderen Schicksal entschied? Mein Schicksal ist längst entschieden. Sie zog sich das Tuch zurecht. »Ich muss zurück ins Haus.«
Er wandte sich ab. »Ja, ja, ich geh auch.« Wohin, sagte er nicht.
Sandy Og hatte zwei weitere Fenster seines Hauses vernagelt und eine Stelle verputzt, die er für undicht hielt, wenngleich die Kälte den Putz sofort spröde machte. Nach Sarahs Ansicht war das Haus warm und windundurchlässig genug. Vielleicht hatte sie recht, vielleicht tat es ihm lediglich gut, in dem sich blähenden Sturm zu arbeiten, etwas zu tun, das Kräfte und Gedanken fesselte, und sein Haus vor allem zu versiegeln, was darum tobte. Am liebsten hätte er eine Mauer um das Haus gezogen, hineingeschleppt, was sich an Vorräten auftreiben ließ, und die Tür bis zum Frühling verrammelt. So viele Tiere verschlafen den Winter. Dabei ist deren Haut nicht halb so verletzlich wie unsere. Wie üblich half es ihm nicht, dass er sich albern fand.
Es begann zu dämmern. Das Grau verdunkelte sich und machte das Weiß des Schnees greller. Sarah schob die Tür einen Spaltbreit auf und steckte ihr Gesicht hinaus. Sie war blass und wirkte erschöpft. Es war keine leichte Arbeit, für den großen Haushalt zu sorgen, erst recht nicht für eine Schwangere. Daran zu denken, wie ihr Leib beim Gehen schaukelte, machte Sandy Og kirre, ließ ihn sich wünschen, sie käme auf ihn zu, obgleich er ihr aufs Strengste eingeschärft hatte, bei dem Sturm im Haus zu bleiben. »Bist du bald fertig? Kommst du zum Essen?«
Er schob Axt und Spachtel in den Gurt und stapfte zu ihr,schob sie in Gänze und sich zur Hälfte in die Stube und küsste sie.
»Ich hätte genauso gut draußen herumspazieren können, nass bin ich jetzt so oder so.«
Er küsste sie wieder. In diesem Augenblick begann draußen ein Pfeifer zu blasen, Frauen des Tales, ein Klagelied, das vielerorts in Lochaber gespielt wurde, um einen Toten zu betrauern. »Das ist doch nicht unser Pfeifer«, brach es aus Sarah heraus. »Wenn
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