Glencoe - Historischer Roman
Ende war? Ein Begreifen, eine Ahnung, woher sie kam? Schnee trieb ihr entgegen, und mit jedem Schritt dachte Ceana weniger. Hatte sie sich noch gefürchtet, solange sie in der Ebene lief, so vernahm sie am Hang nur noch das Ächzen ihres Körpers und den Schnee.
Die Eisluft roch nach nichts, ihr Ton war rauschende Stille. Ob die Sonne schon aufging oder noch Nacht herrschte – durch die dichten Verwehungen drang kein Licht. Wenn Ceana einen Blick in die Höhe erhaschte, sah sie einen Herzschlag lang den Felsen gegen Schnee und Himmel, etwas, das in Stein gemauert war, gegen das Tosen der Kräfte. Dort oben schlafen keine Fianna , durchfuhr es sie. Dort ist alles leer . So winzig hatte sie sich nie gefühlt, nicht bedeutsamer als eine Schneeflocke, die niemandem im Gedächtnis blieb. Ceanas Glieder wurden schwerer, schlaffer, spürten die Kälte nicht mehr und gehorchten ihr nur widerstrebend, als hätten sie begonnen zu sterben. Ceana zwang sich weiter. Zurück nach Glencoe sah sie nicht. Für sie gab es kein Glencoe mehr.
Ceana war gewiss eine Stunde bergauf gestiegen und konnte ihre Waden kaum noch heben, als der Schneefall ausdünnte. Es war Tag, wenn auch lichtlos, die Luft so dick, dass sie beim Atmen klumpte. Aus rauchgrauen Schwaden zeichnete sich hier und da eine verkrümmte Latschenkiefer ab, der nichts Lebendiges anhaftete. Wenn Ceana auftrat, glitt ihr Fuß unter dem kniehohen Schnee oft aus, und sie rutschte das Wegstück, das sie mit Mühe überwunden hatte, wieder zurück. Ihr Körper begehrte auf, wollte nicht noch einmal hinauf, sondern sich niederlegen, um am Hang zu sterben. Doch Ceana kannte kein Erbarmen. Sie würde ins Tal der Gefangenschaft gehen, wie man eine nicht mehr benötigte Leihgabe dorthin zurückbringt, wo sie hergekommen ist.
Als sie vor Erschöpfung das erste Mal auf die Knie fiel, sah sie über sich ein schmales Plateau, über ihm einen noch steileren Hang und dann den Kamm. Es war nicht leicht, sich im markierungslosen Weiß zurechtzufinden, und Ceana kannte das Coire Gabhail und den Weg dorthin nur aus Berichten, aber wenn sie ihr Gespür nicht täuschte, lag ihr Ziel hinter diesem Kamm. Es gelang ihr nicht, sich aufzurichten, und doch kämpfte sie sich weiter, gebückt, nach Schnee wie nach Halt greifend. Ihre Schultertücher hatte sie längst verloren. Was sie noch fühlte, waren völlige Entkräftung, in den Waden Steife und Schmerz.
Die Versuchung, auf dem Plateau zu verweilen, war überwältigend. Ceana musste gegen den aufkommenden Wind anschreien, um sich zum Weitersteigen zu bewegen, sie schrie, bis ihr die Lungen brannten. Beim ersten Schritt an den Hang glaubte sie ihr Echo zu hören, strauchelte und fiel wieder auf die Knie. Wangen und Stirn berührten den Schnee. Das Echo, das wie ihr Name klang, verstummte, den Boden unter ihr erschütterte ein dumpfes Donnern. Obgleich Ceana ein solches Geräusch nie gehört hatte, ließ es ihr Herz bis in den Hals trommeln, und sie wusste sofort, was es bedeutete: Gefahr, Gefahr!
Noch seltsamer war, dass sie schrie und floh. Nicht nach unten, sondern zur Seite, erstaunlich sicher für eine, die nicht wusste, was ihr drohte. Mit erstaunlicher Kraft für eine, die zu Tode erschöpft war, und mit erstaunlichem Willen für eine, die zum Sterben gekommen war. Sie schlug sich, grub sich, rollte sich weiter, auf die Kiefern zu, aus der Flugbahn des Unheils. Ein Druck, der sie zu zerquetschen drohte, traf auf ihre Brust, dann auf jede Fläche ihres Körpers, zermahlte einen jeden ihrer Knochen zu Staub. Als ihr Blick im Fliehen in die Höhe jagte, gab es keine Farbe mehr, war alles weiß. Der schneeweiße Himmel und der schneeweiße Felsen stürzten ein und wirbelten in Trümmern auf sie nieder.
Sie versuchte noch, weiterzufliehen, als der Druck sie niederschleuderte und sie begriff, dass es kein Entkommen gab. Das Donnern war in ein Grollen übergegangen, lauter als alles, was ihre Ohren kannten, Getöse, mit dem die Welt in Scherben brach. Die weiße Woge erfasste sie, machte sie blind, und doch spürte sie noch, wie ihre Brust sich bäumte, wie alles in ihr schrie: Ich will nicht sterben. Auch ihren Namen hörte sie: Ceana, Ceana.
Dann riss die Wucht der zerborstenen Welt sie mit sich hinab.
»Ceana? Ceana!«
Schlimmer als die Schmerzen, die in Brust, Kopf und Schulter schnitten, war die Atemnot. Sie wollte Luft holen, tief, bis an die Spitzen der Lungen, aber ihre Lungen waren zu Erbsen geschrumpft. Röcheln, Hecheln,
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