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Glennkill: Ein Schafskrimmi

Glennkill: Ein Schafskrimmi

Titel: Glennkill: Ein Schafskrimmi Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leonie Swann
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heimkehren? Konnte man überhaupt heimkehren? Sie gehörte hierher, als Herrin über das Grün, so viel war klar. Aber was würden die Bleichen sagen? Die Bleichen, die im Dorf saßen und Erinnerungen zerhackten?
    Sie fluchte. Sehr hübsch fluchte sie, wie ein Viehtreiber. Dann lachte sie. Ein seltsamer Laut war das Lachen. Durchdringend wie ein Meckern und für niemanden bestimmt. Ein unnatürlicher Laut.
    Die Frau hatte ihren Koffer wieder angehoben, schwungvoll, so dass man wissen konnte, dass sie ihn nicht aus Ermüdung, sondern aus Überlegung abgestellt hatte. Eine überlegte Frau. Sie verließ die Straße, überraschend.
    Fast hätte sie ihn dadurch im hohen Gras ertappt. Den Asphalt zu verlassen ohne Wimpernzittern und Augendrehen! Die meisten Menschen zögern, bevor sie ihre Wege verlassen. Misstrauisch sind sie und zartpfotig, als wäre der Boden voller Stolperlöcher, und ihre ersten Schritte sind wie im Schlamm. Die Frau hatte den Weg verlassen wie ein Schaf: entschlossen, treu der Nase nach. Sie folgte ihrer Nase auch jetzt, als sie klug wie ein Schaf auf das Dorf zusteuerte. Sie hatte sich nicht von der Straße irremachen lassen, sie war eine kluge Frau. Sie würde die Bleichen tanzen lassen, so viel war klar, immer im Kreis die Spaten schwingend. Darauf durfte man sich freuen.
     
    *
    Die Schafe waren sich immer sicher gewesen, dass Gabriel ein ausgezeichneter Schäfer sein musste. Allein schon seine Kleidung. Gabriel trug winters wie sommers einen Umhang aus ungefärbter Schafwolle. Einige behaupteten sogar: aus ungewaschener Schafwolle. Geruchlich war Gabriel einem Schaf so ähnlich, wie ein Mensch einem Schaf nur ähnlich sein kann. Besonders bei feuchtem Wetter.
    Und Gabriel verstand es, einem Schaf Komplimente zu machen. Nicht mit Worten, wie George manchmal (viel zu selten), sondern einfach, indem er es ansah mit seinen blauen Augen, ohne ein einziges Mal zu blinzeln. So etwas kraulte einem Schaf die Seele und machte ihm die Knie weich.
    Die Schafe knüpften an Gabriels Schäferei große Erwartungen.
    Bisher war allerdings noch nicht viel passiert. Gabriels Hunde hatten sie kurz zusammengetrieben, und Gabriel hatte sie gezählt. Alles ohne einen einzigen Laut. Gabriels Hunde bellten nicht. Nie. Sie starrten die Schafe nur an. Das reichte, um ihnen kalte Wolfsfurcht über die Hufe ins Rückgrat zu jagen.
    Hinterher kam es ihnen so vor, als wären sie überhaupt nicht gehütet worden. Ein kurzer Moment des Unbehagens, und schon hatten sie sich wie von Geisterhand vor Gabriel zusammengeballt. Ein kurzer Wink mit der Hand, und die Hunde verschwanden.
    Gabriel stand vor dem Schäferwagen, regungslos und lautlos wie der Dolm. Er sah sie mit seinen blauen Augen an, jedes Einzelne, eines nach dem anderen, so als wolle er etwas über sie herausfinden. Bei jedem Schaf nickte er einmal, fast unmerklich, mit dem Kopf.
    Die meisten Schafe waren sich sicher, dass es ein anerkennendes Nicken gewesen war. Gabriel hatte sie geprüft und für gut befunden. Es war aufregend. Sie waren ein bisschen stolz – so lange, bis Othello die gute Stimmung zunichte machte.
    »Er hat uns gezählt«, schnaubte er gereizt, »nur gezählt. Sonst nichts.«
    Othello hatte sich nicht wie der Rest seiner Herde über den neuen Schäfer gefreut. Er hielt sich abseits und dachte dunkle Gedanken.
    Ein Bändiger. In Othellos Augen funkelte eine alte Wut. Er hatte es sofort erkannt: dieselben sparsamen Gesten, dieselbe Langeweile in den Augen. Dieselbe Tücke hinter trügerischer Freundlichkeit. Auch der grausame Clown war ein Bändiger gewesen, mit Zucker und Hunger und schleichender Qual. Er hatte in Othello eine Wut großgezogen, und Othello war überrascht, diese Wut nach all der Zeit noch so neu und unversehrt in sich vorzufinden.
    Aber er würde der Wut nicht so einfach nachgeben. Jetzt nicht mehr. Er dachte an den Tag, an dem er gelernt hatte, seiner Wut Geduld gegenüberzustellen.
    Es war der Tag, an dem der Clown die Tür des Stalls nicht sofort zuschloss. Stattdessen beugte er sich über die Requisitenkiste und drehte Othello das Hinterteil zu. Othello steckte hungrig seine Nase ins Heu, aber seine Augen verließen das Hinterteil des Clowns keinen Augenblick.
    Er vergaß das Heu.
    Er senkte die Hörner.
    In diesem Moment hörte er zum ersten Mal die Stimme. Eine seltsam dunkle, sanfte Stimme, in der sich viele Dinge versteckt hielten.
    »Vorsicht, Schwarzer«, sagte die Stimme hinter ihm, »deine Wut hat schon die Hörner

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