Glennkill: Ein Schafskrimmi
zurückgetrabt in die Vergangenheit und hörte es nicht. Othello sah durch Zäune und immer neue Zäune. Und dann: Schneeflocken. Othellos erster Schnee. Aber statt zu staunen musste er hinter dem Clown hertraben und versuchen, ihm ein Tuch aus der Tasche zu stehlen. Dann stolperte der Clown. Einfach so. Niemand konnte etwas dafür. Die Kinder in ihren warmen Mützen und Jacken lachten. Othello wusste, was der Clown davon hielt, ausgelacht zu werden.
Der Tritt, den ihm der Clown verpasste, als er endlich wieder auf die Beine kam, war nicht gespielt.
»Warum muss das Schaf an Weihnachten arbeiten?«, fragte eine Kinderstimme. »Es ist nicht gerecht!«
Eine Frau lachte. »Natürlich ist es gerecht. Gott hat die Tiere dazu bestimmt, den Menschen zu dienen. So ist das.«
Othello schnaubte wütend. So war das! Neben ihm schnaubte das Winterlamm, eine spöttische kleine Imitation seiner eigenen Wut. Dann keilte es frech aus und hoppelte in Bocksprüngen über die Weide davon. Othello sah sich um.
Der Horizont war rosig geworden wie die Schnauze eines Märzlamms. Auf einmal entdeckte Othello in Richtung des Dorfs die schwarze Silhouette eines Schafs gegen den Horizont. Er erstarrte. Ein paar Augenblicke später zeichneten sich noch andere Schafe vor dem Morgenhimmel ab. Und zwischen den Schafen ging hoch und klar eine schlapphütige Gestalt. Gabriel der Schäfer trieb seine Herde auf ihre Weide zu.
8
Ein weißer Schmetterling, ein Milchtänzer, ein Stück Windseide tauchte auf. Seide wurde aus Raupen gemacht, kriecherischen Erdenwürmern in riesigen Herden. Man kochte sie und stahl ihre Haut, und Schafe wurden geschoren. Man kümmerte sich nicht darum, ob man Würmersaft oder Wolle auf die eigene nackte Haut zog, solange es nur weiß war, solange es nur wärmte. Alle wollten sie weiß wie die Lämmer sein und konnten es doch nicht ertragen und färbten und stanken. Doch die Nacktheit blieb, das war das Geheimnis, das nackte Geheimnis. Nackt vor den Dingen stehen die Menschen da, ausgeliefert den Dingen, verraten von den Dingen und die Dinge verratend.
Was war es diesmal gewesen? Ein Spaten, nicht wahr? Ein Spaten! Die Erinnerung schüttelte ihn. Vor Lachen. Trotzdem kroch eine klingende Traurigkeit an seinem linken Hinterhuf hinauf.
Es war ein schöner Tag, und er versank im Grün. Der weiße Flatterfetzen über ihm hatte keine Chance gegen das Grün. Es duftete über ihn her, es wehte um ihn hin, und der Luftsänger versank willig. Grün breitete sich bis zum Horizont und bis zum Himmel. Grün war der Gesang der Unvernunft. Wachsen, immer nur wachsen ohne Sinn und Verstand, und alle Kreaturen dazu anstiften, es ihm gleichzutun. Und sie taten es ihm gleich. Grün war das schönste Gebot der Welt.
Sachte, fast ohne dass er es bemerkt hätte, war plötzlich eine andere Stimme am Horizont aufgetaucht: Das kleine Rot sang sich durch die Raserei der Welt, eine wandernde Mohnblume, ein heißer Atemzug stapfte die Landstraße entlang, überlegt, entschlossen. Nur ein Narr hätte das kleine Rot ignoriert. Er richtete sich schnaufend auf und spähte durch das hohe Gras. Die Krähe auf seinem Rücken flatterte auf.
Eine Frau kam die Landstraße herab. Ihr Gesicht war von einem Strohhut verdeckt, mit sehr breiter Krempe, die einen scharfen Schatten bis zum Hals warf, aber es musste eine junge Frau sein. Sie trug einen Koffer in der Hand, und sie trug ihn mühelos. Nur eine sehr junge Frau hätte es gewagt, ein so rotes Kleid zu tragen, herzblutrot von den Schultern bis zu den Waden. Ein frischer, kräftiger Geruch trabte ihr voran, gedunkelt von Erde und gesundem Schweiß. Ein Geruch zum Verlieben.
Die junge Frau blieb stehen. Mitten auf der Straße stellte sie ihren Koffer ab. Das war nicht klug. Aus dem grünen Nirgendwo konnte plötzlich ein Auto kommen und ihr Kleid auf den Asphalt gießen. Er selbst ging bei Straßen kein Risiko ein. Wegewüsten, Klangverschlucker. Der Frau schien das keine Sorgen zu machen. Aber natürlich war sie groß und ragte über das Grün hinaus. Vernunft und Feuer. Das Gras würde sich ihr beugen. Um ihr rechtes Handgelenk war ein Tuch gewunden. Sie fuhr sich damit über ihre Wangen. Dann blickte sie zum Himmel, und er konnte ihr Gesicht sehen. Nur einen Moment lang, dann stürzte sich der scharfe Schatten wieder über Augen und Nase Richtung Rot. Sie beugte sich und holte etwas aus ihrem Koffer. Eine Straßenkarte. Eine Fremde also, keine Heimkehrerin. Oder konnte man in die Fremde
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