Glennkill: Ein Schafskrimmi
Othello?«
Othello schwieg.
»Er wird laut vorlesen, laut und deutlich, wie es sich gehört«, sagte Sir Ritchfield.
»Er wird uns viele neue Wörter erklären«, sagte Cordelia.
Sie wurden immer neugieriger. Was in aller Welt würde Gabriel ihnen vorlesen? Sie konnten die Nachmittagsstunden kaum noch erwarten.
»Warum fragen wir nicht sie?«, fragte Cloud. »Sie« waren die anderen Schafe, Gabriels eigene Herde. Gabriels Hunde hatten sie am Rande der Weide zusammengetrieben, und Gabriel war gerade damit beschäftigt, einen Drahtzaun um sie herumzubauen. Georges Schafe wussten nicht so recht, was sie davon halten sollten. Ihre Weide wurde dadurch jedenfalls um ein beträchtliches Stück kleiner.
»Ausgerechnet dort, wo das Mauskraut wächst«, murrte Maude. Die anderen waren nicht wegen des Mauskrauts böse. Ihnen ging es ums Prinzip.
Andererseits waren sie froh, dass Gabriels Schafe nicht einfach so zwischen ihnen herumlaufen würden. Sie kamen ihnen ein bisschen unheimlich vor. Kurzbeinig und langrumpfig, mit langen humorlosen Nasen, rastlosen Augen und einer merkwürdig bleichen Färbung. Sie rochen auch unangenehm. Nicht ungesund, aber nervös und stumpf. Das Seltsamste an ihnen war, dass sie praktisch keine Wolle hatten, nur einen krausen, dichten Flaum auf der Haut. Dabei konnte man sehen, dass sie nicht vor kurzem geschoren worden waren. Warum hatte Gabriel Schafe, die nicht wollten? Zu was waren sie gut? Gabriel musste sehr freundlich sein, wenn er sich mit so nutzlosen Schafen abgab.
Sie konnten sich vorstellen, wie froh Gabriel sein musste, endlich an eine so wollige Herde wie sie geraten zu sein. Bald würde er sich nicht mehr erklären können, was er je an den anderen Schafen gefunden hatte, und sie wegschicken. Bis dahin musste man eben mit ihnen auskommen. Sie waren sich einig, dass die beste Art, mit Gabriels Schafen auszukommen, darin bestand, sie zu ignorieren. Aber jetzt nagte die Neugier.
»Ich würde ja fragen, was er ihnen vorliest«, sagte Maude, »aber es juckt mich in den Nüstern, wenn ich ihnen zu nahe komme.«
Sie sahen Sir Ritchfield an. Als Leitwidder konnte man von ihm erwarten, dass er Kontakt mit der fremden Herde aufnehmen würde. Aber Ritchfield schüttelte den Kopf. »Geduld!«, schnaubte er gereizt.
Mopple traute sich nicht. Othello schien an literarischen Fragen auf einmal nicht interessiert zu sein, und die anderen Schafe waren zu stolz, um mit den Unbewollten zu sprechen.
Schließlich erklärte sich Zora bereit. Sie hatte auf ihrem Felsen eine Menge nachgedacht und war der Auffassung, dass Stolz, wie berechtigt er auch immer sein mochte, kein Schaf daran hindern durfte, so viel wie möglich über die Welt herauszufinden. Als Gabriel gerade hinter dem Schäferwagen mit einer Rolle Drahtzaun beschäftigt war, trabte sie los.
Gabriels Schafe grasten. Das Erste, was Zora an ihnen auffiel, war, wie dicht sie zusammenblieben, eines neben dem anderen, Schulter an Schulter. Es musste unbequem sein, so eng zu grasen. Niemand beachtete Zora, obwohl ihre Witterung sie schon längst angekündigt haben musste. Zora machte am Rande der Herde halt und wartete höflich darauf, angesprochen zu werden. Nichts geschah. Manchmal hob das eine oder andere Schaf den Kopf und spähte nervös nach allen Seiten. Aber die Blicke gingen durch Zora hindurch, als wäre sie unsichtbar. Zora sah ihnen eine Weile zu, eher verwundert als ärgerlich. Dann verlor sie die Geduld und blökte die fremde Herde laut und unmissverständlich an.
Alle Mäuler hörten auf zu grasen. Alle Hälse hoben sich. Alle Köpfe drehten sich in ihre Richtung. Unzählige bleiche Augen starrten Zora an. Sie wartete. Sie hatte keine Angst. Es gab den Himmel, das Meer und vor allem den Felsen. Zora war es gewohnt, in einen Abgrund zu sehen. Sie stand vor ihnen wie in einem kalten Wind und hielt ihnen stand.
Vielleicht war es ein Test. Eine Mutprobe. Um die Lage zu entspannen, schlackerte Zora mutwillig mit den Ohren und rupfte spielerisch ein paar Grashalme. Nichts geschah.
Am anderen Rand der Herde senkten ein paar Schafe wieder ihre Köpfe, und ein monotones, mahlendes Geräusch zeigte an, dass sie wieder mit dem Grasen begonnen hatten. Doch die meisten Augen blieben weiterhin auf Zora gerichtet. Sie musste sich eingestehen, dass diese Augen sie beunruhigten. Ein flackerndes Licht war in ihnen, so wie es manchmal am Himmel spielte, an sehr schlechten Tagen. An solchen Tagen konnte ein Schaf kaum einen klaren Gedanken
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